Eurovision Song Contest Schrill schlägt sexy

Lissabon · Die Israelin Netta gewinnt den Eurovision Song Contest - Europa entscheidet sich beim Eurovision Song Contest für ein selbstbewusstes Frauenbild. Michael Schulte holt für Deutschland einen sensationellen vierten Platz.

Um 0.10 Uhr ahnte Peter Urban, dass in Lissabon etwas gehen könnte. "Deutschlands Punkte sind jetzt schon dreistellig", sagte der Kommentator des Eurovision Song Contests (ESC). "Sie wissen gar nicht, wie gut es mir damit geht nach den letzten Jahren." Dreistellig waren die Punkte eines deutschen Starters zuletzt 2012 in Aserbaidschan, die Ergebnisse der Jahre 2013 bis 2017 blieben nur zweistellig - alle zusammengerechnet.

Aber für Michael Schulte, den 28-Jährigen aus Schleswig-Holstein, gab es in Lissabon noch mehr Zustimmung: Mit seinem Lied "You Let Me Walk Alone" und einem ruhigen und emotionalen, aber kraftvollen Auftritt ohne Tänzer und anderen Schnickschnack überzeugte er die Jury und die Fans in Europa und landete am Ende mit 340 Punkten auf Rang vier - sensationell. Denn solch eine Platzierung hatte ihm niemand zugetraut, auch wenn er bei den Buchmachern im oberen Drittel gehandelt worden war. Zu bitter waren die letzten Platzierungen der letzten und vorletzten Plätze, die mit Debakel treffend beschrieben sind. Er selbst hatte wohl auch nicht recht dran geglaubt. "Ich bin überglücklich. Platz 4", sagte er. "Das ist so verrückt! Einer der schönsten Abende meines Lebens." ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber lobte: "Musik schafft Emotionen, und das ist Michael Schulte europaweit überzeugend gelungen."

Der Sieg ging aber an die Favoritin: Netta (529 Punkte) holte die Trophäe zum vierten Mal in der Geschichte des Song-Contests nach Israel. Ihr Song "Toy" war bereits vor dem Wettbewerb 20 Millionen Mal bei Youtube angeklickt worden. Die 25-Jährige, deren Äußeres ein wenig an Beth Ditto (Gossip) erinnert, stand im schrillen Manga-Outfit auf der Bühne, sie wedelte mit den Armen wie ein Huhn und machte seltsame Klacklaute. Die Botschaft ihres Liedes passt aber in die Zeit, sie beschwört das Selbstbewusstsein der Frauen: Akzeptiert euch, bleibt so, wie ihr seid, ändert euch nicht - schon gar nicht für einen Mann. "Ich bin nicht dein Spielzeug, dummer Junge, ich mache dich fertig", heißt es in einer Zeile des Liedes. Im Flitterregen für den Sieger dankte Netta Europa, dass es das Anderssein gewählt und akzeptiert habe.

Das völlige Kontrastprogramm dazu war die zweitplatzierte Eleni Foureira aus Zypern. Zu ihrem Song "Fuego" (436) tanzte sie in einem hautengen Kostüm, sie und ihre vier Tänzerinnen schleuderten ihre langen Haare durch die Luft und lieferten eine perfekte Show der sexy Posen. Dritter wurde überraschend der Österreicher Cesar Sampson ("Nobody But You"/342) - mit nur zwei Punkten Vorsprung auf Schulte. Der Mann aus Linz hatte nach der Jury-Wertung sogar ganz vorne gelegen, doch die Fans katapultierten Netta mit mehr als 300 Punkten und Foureira an die Spitze.

Die Stimmen setzten sich zu 50 Prozent aus der Meinung einer Fach-Jury und zu 50 Prozent aus dem Zuschauer-Voting zusammen. Das führte zu zum Teil großen Unterschieden in der Bewertung. So gab die deutsche Jury dem schwedischen Beitrag von Benjamin Ingrosso zwölf Punkte, das deutsche Publikum bedachte ihn gar nicht, sondern gab Italien die maximale Punktzahl. Schweden landete auf Rang sieben, Italien auf fünf.

Michael Schulte lag in der Jury-Gunst ebenfalls besser als bei den Zuschauern. Er bekam 204 Punkte von den Experten, 136 vom Publikum. Die Jurys aus Dänemark, der Schweiz, den Niederlanden und aus Norwegen gaben ihm zwölf Punkte. Einen Zehner gab es aus Österreich, San Marino, Serbien, Italien, Polen und Australien. Mit seiner kraftvollen Ballade, mit der er an seinen vor 13 Jahren gestorbenen Vater erinnerte, erzählte er eine glaubwürdige Geschichte. Schulte holte die beste Platzierung seit Lena Meyer-Landruts Sieg 2010. Für den federführenden Norddeutschen Rundfunk (NDR) ging damit das neue Konzept auf, bei dem die Künstler für den Vorentscheid mit internationalen Songwritern ihre Lieder erarbeiteten. "You Let Me Walk Alone" schrieb Schulte unter anderem mit dem Dänen Thomas Stengaard, der auch den Sieger-Song 2013 "Only Teardrops" für Emmelie de Forest aus Dänemark verantwortet hatte.

Ansonsten war es typischer ESC auch mit einigen Liedern, die dem Zuschauer auf dem Sofa einiges an Leidensfähigkeit und Durchhaltevermögen abverlangten. Der Beitrag aus Moldau zum Beispiel, bei dem sechs Sänger und Tänzer in Samt-Outfits in den Landesfarben Rot-Gelb-Blau immer aus verschiedenen Türen herausschauten oder auf die Bühne kamen - das Millowitsch-Theater lässt grüßen. Zwischen mutigen englischen Reimen gab es bei einigen Teilnehmern auch nette Füllwörter wie Schubidudabdab (Norwegen) und Monsterkleider (Estland). Und der Sänger aus der Ukraine wurde wie Dracula aus einem Piano-Sarg emporgehoben, später stand seine Bühnentreppe in Flammen. Überhaupt Feuer: Das spielte eine große Rolle, manche Nationen setzten bei der Bühnen-Performance so intensiv auf Pyrotechnik, dass man sich zeitweise bei einer Schlussfeier der Olympischen Spiele wähnte.

Einen Schreckmoment gab es beim Auftritt der britischen Sängerin SuRie, bei dem ein Mann auf die Bühne stürmte und ihr für Sekunden das Mikrofon entriss. Sie blieb scheinbar unberührt, klatschte und animierte die Fans und sang mit einem zweiten Mikro einfach weiter, als Sicherheitskräfte dem Mann das Mikro entwunden und ihn weggebracht hatten. Laut Statuten hätte die Sängerin noch einmal auftreten dürfen, die britische Delegation entschied sich jedoch dagegen. Vielleicht wusste sie auch, dass es nicht helfen würde. Großbritannien landete am Ende auf Platz 24 von 26 Startern im Finale.

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu rief Siegerin Netta noch in der Nacht an. "Du hast dem Staat Israel viel Ehre eingebracht. Nächstes Jahr in Jerusalem", schrieb er beim Kurznachrichtendienst Twitter. 2019 soll der Wettbewerb also in der Stadt stattfinden, die Israel als Hauptstadt für sich beansprucht. Auch vor dem Hintergrund des Konflikts mit dem Iran wird deutlich, dass Europa eigentlich ganz andere Probleme hat als ein paar schlechte Kostüme und schiefe Töne. Darüber kann solch ein Abend nur kurz hinwegtäuschen.

(mso)
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