Zum Tode von Papst Benedikt XVI. Der Denker
Düsseldorf · Mit seiner Wahl wurde 2005 erstmals nach 482 Jahren wieder ein Deutscher katholisches Oberhaupt. Im Alter von 95 Jahren ist der emeritierte Papst Benedikt XVI. im Vatikan gestorben.
Dieser 19. April 2005 war ein recht kühler, regnerischer Tag in Rom. Doch all das Ungemütliche war vergessen, als der chilenische Kardinalprotodiakon Jorge Arturo Medina Estévez auf der Loggia des Petersdoms erschien und den vielen Tausend Menschen auf dem Platz und Millionen Fernsehzuschauern daheim die „große Freude“ verkündete: „Habemus Papam“ – wir haben einen Papst! Es war der 265. Pontifex in der Geschichte der katholischen Kirche. Er hieß Joseph Ratzinger und gab sich den Namen Benedikt XVI.
Dies könnte der krönende Höhepunkt eines langen Theologenlebens gewesen sein. Doch der 78-Jährige schaute eher etwas ungläubig aufs jubelnde Kirchenvolk, ein wenig scheu auch. Wie man ihn halt zu kennen glaubte. Keine acht Jahre währte sein Pontifikat, bis zu seinem Rücktritt am 28. Februar 2013. Und die Einschätzungen gehen bis heute weit auseinander, ob es nun geglückte, tragische oder schwierige Jahre gewesen sind. Am 31. Dezember ist der im bayerischen Marktl geborene Benedikt XVI. im Alter von 95 Jahren im Vatikan gestorben.
Seine Wahl schien im Jahr 2005 eine kleine Sensation, aber doch keine Überraschung zu sein. Denn tatsächlich bot sich unter den 115 Kardinälen – gleichwohl sich etliche Ratzinger-Gegner in ihren Reihen fanden – kaum eine überzeugende Alternative an. Zumal als der damals dienstälteste Kurienkardinal Ratzinger bei der Totenfeier für Johannes Paul II. ungewollt alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Und kurz vor seiner Wahl ließ er mit seiner Predigt über die „Diktatur des Relativismus“ die Welt aufhorchen. Das zeigte seine Wirkung auch bei den Kardinälen. In nur vier Wahlgängen einigte man sich fast in Rekordzeit auf Ratzinger, und seine ärgsten Kritiker mögen sich damit getröstet haben, dass er aufgrund seines Alters kaum mehr als ein „Übergangspapst“ sein konnte.
Die Sensation seiner Wahl aber war zweifelsohne seine Herkunft. Denn mit Papst Benedikt XVI. war nach 482 Jahren erstmals wieder ein Deutscher zum Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt worden. Schon am nächsten Tag sorgte die „Bild“-Zeitung mit ihrer Schlagzeile „Wir sind Papst“ für einige Belustigung; doch steckt darin eben auch mehr als nur ein Fünkchen staunender Wahrheit: ein Deutscher auf dem Stuhle Petri! Der Philosoph Peter Sloterdijk beschrieb das später so: „Eine deutsche Herkunft muss kein Grund mehr für Vertrauensentzug sein“ – und so konnte zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Deutscher zur höchsten moralischen Instanz zumindest der Christenheit aufsteigen.
Diese Herkunft machte Benedikt aber auch zu schaffen. Sie wurde zu einer Hypothek. Viele seiner Aussagen wurden auch vor dem Hintergrund seiner Nationalität gelesen, gedeutet, kritisiert. Und an Konflikten, diplomatischen Krisen und Missverständnissen mangelte es nicht: Seine Regensburger Rede 2006 über die Gewalt im Islam sorgte wochenlang für erregte Debatten, ebenso die Zulassung der Karfreitagsfürbitte, in der für die Erleuchtung der Juden gebetet wird. Sein Zugehen auf den Holocaust-Leugner Richard Williamson von den Pius-Brüdern irritierte ebenso sehr wie die Zulassung der Messe in lateinischer Sprache, die ihn zum Erzkonservativen stempelte.
Aber auch der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche stellte viele Fragen an sein Pontifikat, die bis in die Gegenwart reichen. Pflichtverletzungen wurden ihm in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising vorgeworfen; zuletzt drohte ihm gar eine Zivilklage vor dem Landgericht Traunstein. Zum betreffenden Missbrauchsgutachten gab er eine 82 Seiten umfassende Stellungnahme ab, er musste eine peinliche Korrektur seiner so akribischen Aussagen nachreichen mit der Begründung, dass diese falsche Aussage die „Folge eines Versehens bei der redaktionellen Bearbeitung“ gewesen sei. Viele, vor allem Missbrauchsbetroffene, reagierten empört auf dieses Bemühen, Schuld abzuwehren.
Die Ablehnung persönlicher Verantwortung war der Schlusspunkt eines zwar kurzen, aber vielfach bedenkenswerten Pontifikats. Denn das stand von Beginn unter dem Vorzeichen, dass ein großer Theologe, ein Denker zum Heiligen Vater wurde. Von einflussreichster Warte aus bemühte er sich darum, Glauben und Vernunft zu versöhnen, das Mysterium mit Mitteln der Aufklärung zu bewahren, um so die Glaubenstradition auch für die Moderne vital und attraktiv zu halten. Es war ein intellektueller Ritterschlag, dass schon vor der Papstwahl mit Jürgen Habermas einer der weltweit einflussreichsten Philosophen den Disput mit Ratzinger suchte.
Wer konnte dafür besser geeignet sein als Joseph Ratzinger, der aus einem einfachen, glaubensfesten Elternhaus stammte und mit seinem vor zwei Jahren gestorbenen Bruder Georg Ratzinger in die geistliche Welt aufgebrochen war? Der junge, brillante Konzilstheologe, ein fortschrittlicher Denker, der mit seinem Buch „Einführung in das Christentum“ so vielen Gläubigen und Nicht-Gläubigen zu denken gab? Das Buch erschien 1968, zu einer Umbruchzeit in Deutschland, für die Universitäten und auch für Ratzinger selbst. Denn als Professor für Dogmatik lehrte er zu dieser Zeit in Tübingen und erlebte dort unmittelbar die gewaltvollen Proteste der Studierenden.
Diese Erfahrung wirkte in ihm nach. Noch 2019 gab er der 68er-Bewegung zumindest eine größere Mitschuld an der sexualisierten Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen: mit ihrer anfänglichen Tolerierung der Pädophilie und in deren Gefolge einer staatlichen Sexualerziehung, die moralische Vorstellungen in einen Zustand der Auflösung bugsierte.
Joseph Ratzinger wäre wahrscheinlich liebend gern Joseph Ratzinger geblieben, der Theologe, der Denker und Büchermensch. Kein Bischof also und kein Erzbischof. Auch kein Präfekt der Glaubenskongregation, der streng über die Lehre wachte, der unter anderem die Befreiungstheologie ablehnte und in Deutschland den Ausstieg der katholischen Kirche aus der staatlichen Schwangerenkonfliktberatung förderte. Mit Joseph Ratzinger und Hans Küng (1928–2021) hatte es in der katholischen Theologie einst zwei Jungstars gegeben. Doch während der eine, Küng, an der Institution mehr und mehr verzweifelte und schließlich zum Rebell ohne Lehrerlaubnis wurde, trat der andere, Ratzinger, seinen Weg durch die Institution an.
So blieb der Denker eingebunden in den Machtapparat, bis er schließlich sogar diesen „unmöglichen Job“ des Papstes bekleidete. Ihm fehlte jedes Gespür für Macht, für Netzwerke, für Menschen, für die Institution, und so konnte die Kurie ihr unter Johannes Paul II. begonnenes Eigenleben nahezu ungestört fortführen und ausbauen. Auch dies wurde ihm eine schwere, schließlich zu schwere Last und Bürde. Am 28. Februar 2013 erklärte er seinen Amtsverzicht, was kirchenrechtlich machbar war, nach dem langen Pontifikat seines Vorgängers aber fast wie eine Flucht erscheinen musste.
Doch gerade dieser mutige, unerhörte Schritt machte Ratzinger im Gewand des Papstes wieder sichtbar. Er machte das überhöhte Amt wieder menschlicher. Er machte deutlich, dass auch ein Papst mit dem Alter zurechtkommen muss und irgendwann die Kräfte dazu nicht mehr reichen. Sein Verzicht aufs Amt war kein Zeichen des Scheiterns, vielmehr eins der Demut. Er befreite mit diesem Schritt das Papstamt von der vielfach falsch verstandenen Unfehlbarkeit. „Stilbildend“ war dieser Schritt nach den Worten des Münsteraner Kirchenhistorikers Hubert Wolf.
Im Grunde hatte es Benedikt XVI. bereits mit seinen ersten Worten als Papst auf der Loggia des Petersdoms gesagt: „Nach dem großen Papst Johannes Paul II. haben die Kardinäle mich gewählt – einen einfachen, bescheidenen Arbeiter im Weinberg des Herrn.“ Doch tröste ihn die Tatsache, dass der Herr auch „mit ungenügenden Werkzeugen“ handeln könne.
Wir hatten einen Papst.