Gastbeitrag von Thorsten Latzel Lasst uns einander Hirten werden!

Düsseldorf · Wenig Chanel, viel Schweiß und Stallgeruch: Hirten galten vor rund 2000 Jahren als Außenseiter. Dass sich Jesus an ihren Qualitäten orientierte, kann uns auch heute noch eine Lehre sein – gerade an diesem nächsten Tiefpunkt der Corona-Krise. Ein Gastbeitrag.

 Ein Hirte bei der Arbeit.

Ein Hirte bei der Arbeit.

Foto: Berns, Lothar (lber)

Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht!“

Hirten, so erzählt es Lukas, waren damals die ersten, denen die Engel die Weihnachtsbotschaft brachten: von dem neugeborenen Heiland im Stall von Bethlehem. Später als Erwachsener wird Jesus von sich selbst sagen: „Ich bin der gute Hirte.“

Hirten. Sie gehörten damals zu den Außenseitern der Gesellschaft. Sie lebten draußen bei dem Vieh, zogen mit ihm durchs Land, rochen nach Vieh. Wenig Chanel No 5, viel Schweiß und Stallgeruch. Unstete Leute, mit rauen Sitten, anders als die kultivierte Stadtbevölkerung. Hier bei den Außenseitern, so die Weihnachtsgeschichte, kommt Gott als Mensch zur Welt.

 Thorsten Latzel ist neuer Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland.

Thorsten Latzel ist neuer Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland.

Foto: dpa/Federico Gambarini

Hirten waren und sind zugleich auch die, die sich um andere kümmern und sie schützen. Sie verteidigen ihre Herde gegen wilde Tiere. Sie suchen für sie grüne Wiesen zum Weiden und Wasser zum Trinken. Sie bleiben bei ihnen, auch in der Nacht und bei Gefahr. Sie versorgen verletzte Tiere, suchen verlorene Schafe, bringen sie heim. In dem berühmten Psalm 23 spiegelt sich davon etwas wider: „Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln.“ Darin drückt sich eine tiefe Sehnsucht von Menschen damals wie heute aus: dass da einer ist, der sich um mich kümmert, mich beschützt, bei mir bleibt, auch wenn es dunkel wird und ich mich im Leben verrannt habe. Und gerade diese dunklen Momente sind es, in denen Gott wie in dem Psalm auf einmal zum „Du“ wird: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir.“ Darum geht es an Weihnachten: Jesus Christus tritt als guter Hirte an meine Seite – und macht mich frei, für andere zum Hirten zu werden.

Gerade in den vergangenen Corona-Monaten konnte man etwas von der kollektiven Erschöpfung spüren. Davon, wie müde und ausgelaugt viele von der Pandemie sind, und von allem, was damit einhergeht. „Ich bräuchte einfach mal einen, der mich in den Arm nimmt und sich nur um mich kümmert“, sagte neulich eine Bekannte zu mir. „Sich um die Kinder kümmern, den Job machen, den Haushalt, dazu Corona – und dann soll noch Weihnachtsstimmung aufkommen.“ Eine erschöpfte Hirtin unserer Tage, die sich während der Pandemie um andere sorgt, den Laden irgendwie am Laufen hält – auch wenn der eigene Akku schon lange leer ist. Oder eine junge Ärztin, die ich bei der Impfstation in einer Kirche kennengelernt habe. Auch sie sichtlich müde, und doch strahlt sie eine trotzige Widerstandskraft aus: „Es hilft ja nichts. Wir kommen da nur gemeinsam durch. Und jetzt einmal bitte den linken Ärmel hoch.“

Einander Hirte sein. Das ist etwas, was mir besonders in der Flutkatastrophe begegnet ist. Die Schlammlawine hatte ganze Häuser weggerissen, der Besitz, die Erinnerung von Menschen lag verschlammt auf der Straße. Und auf einmal waren da fremde Menschen, die Essen, Kleider verteilten, beim Ausräumen halfen – einfach für andere da waren. „Ich habe nicht geweint, als das Wasser kam“, erzählte eine Betroffene, „ich habe erst geweint, als die Hilfe kam.“ Und sie fügte hinzu: „Das hat mir den Glauben an die Mitmenschlichkeit wiedergegeben.“

„Einander Hirte sein.“ So verstehe ich, was es heißt, Christ zu sein: dass wir einander trösten, stärken, heilen, helfen, beistehen – und der Erschöpfung nicht das letzte Wort lassen. So wie die Hirten damals in der Weihnachtsgeschichte. Als die Engel zu ihnen kamen, machten sie sich auf. Suchten das Kind in der Krippe, das wie sie nichts über dem Kopf hatte als nur einen Stall und die Wärme des Viehs. Sie ließen sich berühren von der Armut und Schwäche dieses „Heilands der Welt“. So hilflos und klein wie eins ihrer Lämmer. Und sie merkten, wie das Kind sie veränderte, wie seine Schwäche sie stark machte, seine Armut sie reich. Man musste es schützen, das spürten sie. Und mit ihm die Hoffnung darauf, dass diese Welt einmal anders wird. Hier lag er, der lang ersehnte Christus, als Neugeborener in der Krippe. Um selbst zum Hirten zu werden.

„Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über die Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.“

Welche Geschichten werden wir später einmal von diesem Weihnachten in der Pandemie erzählen? Ich hoffe, unsere Geschichten werden wenig von Alleinsein, Angst oder Erschöpfung handeln, aber viel davon, wie wir einander Hirtinnen und Hirten geworden sind. Wie wir einander Mut machten, trösteten, Hoffnung gaben. Und davon, wie Gott dabei an unserer Seite war.


Thorsten Latzel (51) ist seit März Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Düsseldorf.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort