Missbrauchsvorwürfe gegen Kardinal Hengsbach Sturz eines Denkmals
Düsseldorf · Erstmals treffen Missbrauchsvorwürfe einen ranghöchsten deutschen Kirchenmann, der weit über seinen Tod hinaus verehrt wurde. Bistum, Stadt und Gläubige ringen um den richtigen Umgang mit Kardinal Hengsbach – der sich nicht am Denkmalabriss entscheidet.
Wem die markige Statue bisher nie ins Auge gefallen war, der wird in diesen Tagen wohl noch einmal genau hingeschaut haben, auf dem Domhof in der Essener Innenstadt, unweit vom Hauptbahnhof und direkt an der Haupteinkaufsstraße. Zwölf Jahre steht sie nun dort und wird nach einvernehmlicher Entscheidung des Domkapitels alsbald entfernt: die überlebensgroße Figur Franz Hengsbachs, dem Gründerbischof des Ruhrbistums nach dem Zweiten Weltkrieg, 1988 zum Kardinal ernannt, Patron der Stadt, Versteher der Bergleute. „Kumpel Franz“ sollen sie ihn nur genannt, ihn geschätzt haben für seinen Einsatz, sein gewinnendes Lächeln. So wie ihn das Denkmal zeigt, in scharlachrotem Talar, mit Schulterumhang, rotem Birett auf dem Kopf, Blickrichtung Osten.
Es ist die Richtung des Erzbistums Paderborn, wo das priesterliche Leben von Hengsbach seinen Anfang nahm. Und worauf, nebst Essen, die katholische Welt seit Dienstag blickt. In Paderborn 1954 und in Essen 1967 soll Hengsbach je einer Minderjährige sexuelle Gewalt angetan haben. Er selbst war damals 44, beziehungsweise 57 Jahre alt. Die Frau, die den Fall von 1967 meldete, beschuldigte zugleich Hengsbachs jüngeren Bruder Paul, der Priester im Erzbistum war. Die Vorwürfe haben die Betroffenen unabhängig voneinander erhoben, sowohl räumlich als auch zeitlich: Zwischen der ersten Meldung im Erzbistum an der Pader und der zweiten im Ruhrbistum liegen elf Jahre. Dass beide erst dieser Tage öffentlich wurden, reiht sich ein in die immer ähnlich gelagerten Fälle sexueller Gewalt in der Katholischen Kirche in Deutschland. Und doch ist dieser anders.
Zum ersten Mal in der Geschichte geht es auf den obereren Ebenen nicht „nur“ um den Vorwurf der Vertuschung, des Täterschutzes und des strukturellen Möglichmachens von Missbrauch. Dass ein ranghöchster Kleriker, ein Stellvertreter des Papstes, selbst des Missbrauchs bezichtigt wird, das hat es in Deutschland noch nicht gegeben. Dass Kardinal Hengsbach seit 32 Jahren tot ist, kann also schon deshalb kein Grund gegen die Veröffentlichung sein, weil er eine zentrale Figur war, eine Person der Zeitgeschichte ist.
Dass die Aussagen der Betroffenen – man muss sagen: wenigstens jetzt – als sehr glaubwürdig betrachtet werden, zeigt sich insbesondere am Bistum Essen. Nachdem Bischof Franz-Josef Overbeck im März von der Meldung in Essen erfuhr, Nachforschungen in Hengsbachs Heimat Paderborn anstellte und der zweite, ältere Fall dort neu bewertet wurde, entschied er sich für den Gang an die Öffentlichkeit – entgegen dem ausdrücklichen Wunsch der Essener Betroffenen. Wohlwissend, dass nicht nur das Bistum und die Kirche insgesamt in Misskredit geraten würde – sondern auch er selbst.
Overbeck wurde schließlich, so gibt er es selbst zu, bereits 2011 vom Erzbistum Paderborn über die Vorwürfe informiert, und zwar im August. Dass der damals recht frisch amtierende Ruhrbischof die jahrelang geplante Enthüllung des Hengsbach-Denkmals nicht stoppte, versucht er im Nachgang nicht nur zu erklären. Er bittet ausdrücklich um Entschuldigung. In einem Schreiben an die Gemeinden räumt er Versäumnisse in seinem Verhalten 2011 ein: Nach Einschätzung aus Paderborn sowie der Rückmeldung der Glaubenskongregation aus Rom später, dass diese die Vorwürfe für nicht plausibel halte, habe er nichts weiter unternommen, den Fall als bearbeitet angesehen. Auch von einem Hinweis an das damals im Bistum Essen tätige Forschungsteam zur Aufklärungsstudie habe er abgesehen. „Das war falsch“, betont Overbeck. „Dass ich damit dem Muster folgte, dem Schutz des Ansehens eines kirchlichen Würdenträgers Vorrang zu geben und die betroffenen Menschen nicht hinreichend zu sehen, war mir damals nicht bewusst.“
Die Perspektive der von sexueller Gewalt betroffenen Menschen müsse im Mittelpunkt stehen, heißt es aus Essen, und was das in letzter Konsequenz bedeutet, zeigt die schnelle Entscheidung zum Kunstwerk auf dem Domhof. Noch am Freitag kam das Domkapitel zu einer Sondersitzung zusammen und entschied einvernehmlich, dass das Denkmal „alsbald“ entfernt wird. Overbeck hatte dies schon zuvor in seinem Schreiben unterstützt. Anstelle der Skulptur soll ein Gedächtnisort für die Opfer sexuellen Missbrauchs entstehen, in Absprache mit dem Betroffenenbeirat.
Verschiedene Initiativen, so auch „Maria 2.0“, dürften die klare und schnelle Entscheidung aus Essen begrüßen. Und doch ist es damit nicht getan, mutmaßliche Täter aus der öffentlichen der Wahrnehmung zu entfernen. Zumal sich politische Fragen anschließen zu diversen Straßen und Plätzen, die nicht nur in Essen dem Kardinal gewidmet sind. „Ich konnte nicht glauben, dass ein geschätzter Kardinal, der zugleich mein Vorgänger im Bischofsamt war, anderen Menschen furchtbares Leid zugefügt haben könnte“, schreibt Bischof Overbeck in seinem Brief an die Gläubigen. Eine Ikone vom Sockel zu nehmen, so viel wird deutlich, ist keine rein baurechtliche Maßnahme.