Sexueller Missbrauch im Erzbistum Köln „Bischöfe sind überfordert mit der Selbstaufklärung“

Interview · Der Theologe, Psychiater und Buchautor Manfred Lütz fordert eine unabhängige staatliche Untersuchung für Missbrauch in der katholischen und evangelischen Kirche. Und er betont, dass es keinen Hinweis auf den Zusammenhang von Missbrauch und Zölibat gebe.

 Manfred Lütz.

Manfred Lütz.

Foto: Tobias Liminski

Bringt das Münchner Gutachten neue Erkenntnisse über die Verfehlungen der Kölner Bistumsleitung?

Lütz Ich gestehe offen, dass ich die Enttäuschung der Menschen sehr gut verstehen konnte, weil die Veröffentlichung dieses Gutachtens so häufig und nachdrücklich angekündigt wurde – und dann nicht stattfand. Aber als ich es jetzt gelesen habe, wurde klar, warum man das nicht veröffentlichen wollte, und zwar nicht, weil da Geheimnisse ausgeplaudert werden, sondern weil es einfach gerade im Verhältnis zum Gercke-Gutachten so schlecht ist. Wenn Sie mich nach Verfehlungen der Kölner Bistumsleitung fragen: Die Bestellung dieser Kanzlei war eine Verfehlung...

Was hat Sie am Münchner Gutachten überrascht?

Lütz Dass es eben nicht konkrete Fallbeschreibungen gab, wie im Gercke-Gutachten, so dass jeder die Verfehlung lesen und sich selber ein Urteil bilden kann, sondern nur allgemeine ziemlich freihändige Beurteilungen der einzelnen Personen im Stil von Arbeitszeugnissen und trendige Kirchenkritik, die man schon in der MHG-Studie besser lesen kann.

WSW deutet systemische Gründe an, die Missbrauch begünstigten. Welche sind Ihrer Meinung nach relevant und bedürfen der intensiven Klärung?

Lütz Für mich hat dieses quälende letzte Jahr nur erneut in aller Deutlichkeit gezeigt, dass die Bischöfe überfordert sind mit der Selbstaufklärung. Seit elf Jahren produzieren sie eine Kirchenaustrittswelle nach der anderen – obwohl es übrigens nach Aussagen von Fachleuten keinen Hinweis darauf gibt, dass strafbarer sexueller Missbrauch durch Priester in diesen Jahren zugenommen hätte, im Gegenteil. Ich plädiere schon seit 2010 für eine wirklich unabhängige staatliche Untersuchung der katholischen und der evangelischen Kirche, des Deutschen Olympischen Sportbunds und anderer entsprechender Verbände. Diese Auffassung teilen übrigens die Opferverbände, und Bischof Bätzing hat sich dafür offen gezeigt. Es sollte dafür nur eine Kommission geben, damit die Ergebnisse vergleichbar sind – nicht 27 Kommissionen für 27 Diözesen, wie das jetzt geplant ist. Und dann könnte man gerade in den Unterschieden der Ergebnisse wissenschaftlich seriös sehen, was wirklich die spezifischen systemischen Gründe bei der katholischen Kirche sein könnten. Jetzt hat man manchmal den Eindruck, jeder sieht als Ursache seine Lieblingsfeinde.

Vieles dreht sich um das Priesterbild, um die zölibatäre Lebensform wie auch das hohe Selbstbild. Kann sich das ändern allein durch Reformen in der Priesterausbildung

Lütz Es gilt nach wie vor, was Deutschlands führende forensischen Psychiater in der viel zu wenig beachteten Leygrafstudie von 2012 schreiben: Es gibt bisher keinen seriösen wissenschaftlichen Hinweis auf einen Zusammenhang von Zölibat und Missbrauch. Aber da könnte ja vielleicht die oben vorgeschlagene Studie neue Erkenntnisse erbringen. Natürlich ist eine ungesunde Überhöhung des Priesterbildes auch theologisch und pastoral ein Problem. Und man sollte tatsächlich nicht immer nur über Zölibat Ja/Nein reden, sondern über eine bessere Zölibatskultur und die kann nicht allein, aber sicher besonders durch eine gute Reform der Priesterausbildung angestrebt werden.

Mit beiden Gutachten scheinen im Erzbistum die Weichen nicht auf Neuanfang zu stehen. Zu viel Unzufriedenheit herrscht weiterhin. Was müsste geschehen?

Lütz Ich habe mit meinem Ortsbischof gehadert, als die Betroffenenvertretung instrumentalisiert wurde, um die umstrittene Entscheidung der Nichtveröffentlichung des Gutachtens zu begründen. Ich bekam feuchte Augen als ich die WDR-Filme über die ausgetretenen Betroffenenvertreter sah, die retraumatisiert waren und nicht mehr schlafen konnten. Aber es hat mich sehr gerührt, als am Dienstag Kardinal Woelki von seinem vorbereiteten Text abwich und ganz ernsthaft jedes Wort wägend öffentlich ganz konkret Fehler eingestand, die ihn immer noch belasten. Ich selber kenne so etwas auch. Ich habe das sozusagen als echten Befreiungsschlag des Kardinals erlebt und ich glaube, das geht vielen so. Er hat ja auch die Einbeziehung der Betroffenenvertretung klar als Fehler eingestanden. Ich glaube, so ist ein Neuanfang möglich. Er hat ja sichtbar die Hand an alle ausgestreckt.

Sie haben die Kirche einmal als den blockierten Riesen beschrieben. Ganz so riesig ist die Kirche nicht, aber offenbar noch immer blockiert. Woran liegt es und was muss geschehen?

Lütz Ich hatte in den vergangenen Monaten immer wieder Hoffnung auf eine Lösung, die die Kirche neu erstrahlen lassen würde. Aber vielleicht will der liebe Gott das gar nicht, vielleicht will er eine zerschundene Kirche – von der Papst Franziskus gerne spricht – vielleicht suchte er sich den charakterschwachen Petrus, Paulus, der bei Stephanus Beihilfe zum Lynch-Mord leistete und so komische Typen wie uns, damit seine Gnade für uns Sünder umso heller strahlt.

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