Kolumne Gott und die Welt Der Appell der Religionen an unser Gewissen

Meinung · Der russische Angriffskrieg in der Ukraine wirft die Frage auf: Nach welchen Kriterien solidarisieren sich Menschen miteinander? Warum manche Argumentation auch Gefahren birgt und welche Rolle Religionen einnehmen müssen.

 Mouhanad Khorchide, Islamwissenschaftler aus Münster. Er ist einer der Autoren der Kolumne „Gott und die Welt“.

Mouhanad Khorchide, Islamwissenschaftler aus Münster. Er ist einer der Autoren der Kolumne „Gott und die Welt“.

Foto: Peter Grewer

Krieg polarisiert, er trennt Menschen voneinander, er schürt Hass und bringt den Tod. Er vereint aber auch Menschen, die zu Solidarität mit der einen oder anderen Seite aufrufen. Die Frage, die mich hier beschäftigt, lautet: Nach welchen Kriterien solidarisieren sich Menschen miteinander: nach ethischen Prinzipien oder nach eigenen Interessen? Und welche Rolle spielt Religion dabei? Hier geht mein Blick als Muslim speziell auf den Islam und die Muslime.

Die realen Verhältnisse lassen diese Fragen offen: Einerseits solidarisieren sich die meisten islamischen Länder im Krieg Russlands gegen die Ukraine mit der ukrainischen Bevölkerung, andererseits gibt es auch Regime, wie das syrische, die sich mit Russland verbünden. Gleichzeitig höre ich immer wieder das Argument, dass auch der Westen nicht immer nach ethischen Prinzipien, sondern nach eigenen Interessen handele, man müsse nur das stillschweigende Hinnehmen des Jemen-Krieges nennen. Diese Form der Argumentation, die darauf abzielt, ethische Prinzipien unter dem Vorwand zu äußern, dass andere sich auch nicht daran halten würden, birgt eine große Gefahr für den Frieden, weil man damit Krieg und Übel in der Welt scheinbar rechtfertigen will.

Ich verstehe aber Religion als ständige Erinnerung an nicht verhandelbare Prinzipien der Gerechtigkeit, des Friedens und der Nächstenliebe, als ein Appell an unser Gewissen. So heißt es im Koran: Seid gerecht und Zeugen der Gerechtigkeit, auch wenn es gegen euch, gegen die eigenen Eltern oder Verwandte geht (Koran 4:135). Es soll also Gerechtigkeit walten, nicht die eigenen Interessen! Was mich nun irritiert, ist die Instrumentalisierung der Situation der ukrainischen Flüchtlinge durch einige Muslime, um einen vermeintlichen Opferstatus der Muslime zu konstruieren, indem sie dem Westen aber auch muslimischen Akteuren und Akteurinnen und Moscheegemeinden im Speziellen vorwerfen, sie würden nun die Ukrainier mit offenen Armen empfangen, während Nicht-Europäer, wie syrische und afghanische Flüchtlinge, an verschlossenen Grenzen im Stich gelassen worden seien.

Dieser Versuch, aus dem Krieg nun für die eigenen Interessen Profit herauszuschlagen, ist oftmals eine Strategie von Islamisten, um sich selbst, durch die Verteufelung des Westens und der dem Westen freundlich gesinnten Muslime, als Alternative anzubieten. Darauf dürfen weder Muslime noch Nichtmuslime hereinfallen.

Unser Autor ist Islamwissenschaftler an der Universität Münster. Er wechselt sich hier mit der Benediktinerin Philippa Rath, der evangelischen Pfarrerin Friederike Lambrich und dem Rabbi Jehoschua Ahrens ab.

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