Gott und die Welt Eine Übung in Nächstenliebe
Meinung · Krisenzeiten sind auch Anlässe, über den eigenen Schatten zu springen. Statt Übriggebliebenes zu spenden, müsste man sich fragen: Bin ich auch bereit, etwas zu geben, das ich für mich selbst gebrauchen könnte?
Im Jahr 622 wurde der Prophet Mohammed aus Mekka vertrieben. Er wanderte nach Medina aus. Mohammed und seine Anhänger galten als Flüchtlinge, die dort Sicherheit und eine neue Heimat suchten. Der Koran lobt die Medinenser, die Mohammed und den mit ihm Geflüchteten Zuflucht gewährten – bedingungslos und aus Liebe, „sie bevorzugen die Flüchtlinge vor sich selbst, auch wenn sie selbst Not litten“ (Koran 59:9). Am Ende dieses Verses stellt der Koran fest: „Diejenigen, die vor ihrer eigenen Habgier bewahrt werden, diese sind die eigentlichen Gewinner.“
2015 waren wir mit der Frage nach dem Umgang mit Flüchtlingen konfrontiert, die hauptsächlich aus Syrien zu uns kamen, und heute sind wir es erneut im Zuge des Krieges Russlands gegen die Ukraine. Einem vor Krieg geflüchteten Menschen Sicherheit und Perspektive zu bieten, setzt viel Empathie voraus, aber auch die Bereitschaft, selbstlos zu handeln. Dies ist keine Selbstverständlichkeit, denn der Mensch neigt dazu, nur für das eigene Überleben zu kämpfen. Ich habe mich selbst oft dabei ertappt, dass ich, wenn ich etwas spenden wollte, nur das zur Verfügung gestellt habe, was ich ohnehin nicht mehr brauchte.
Aber jedes Mal, wenn ich den oben zitierten Vers lese, fühle ich mich mit der eigenen Habgier konfrontiert und frage mich: Bin ich auch bereit, etwas zu geben, das ich für mich selbst gebrauchen könnte? Bin ich bereit, auf die eigene Bequemlichkeit, auf den eigenen Vorteil zu verzichten? Das gelingt mir nicht immer. Aber sind nicht gerade Krisenzeiten wie diese ein Anlass, sich selbst besser kennenzulernen und sich selbst herauszufordern, über den eigenen Schatten zu springen und sich in mehr Empathie und selbstlosem Handeln zu üben?
Ich stelle mir in diesen Tagen oft die Frage: Wären meine Familie und ich an der Stelle dieser Flüchtlinge, wie würde ich von denen behandelt werden wollen, denen es viel besser geht? Heißt es nicht in unseren heiligen Schriften: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst und wünsche ihm das, was du dir selbst wünschen würdest?
Unser Autor ist Islamwissenschaftler an der Universität Münster. Er wechselt sich hier mit der Benediktinerin Philippa Rath, der evangelischen Pfarrerin Friederike Lambrich und dem Rabbi Jehoschua Ahrens ab.