Evangelischer Kirchentag in Nürnberg Klima, Krieg und ein Gottesdienst mit KI

Die fünftägige Großveranstaltung ist mehr als ein Treffen gläubiger Christen aus ganz Deutschland. Mit Gästen wie Olaf Scholz und Robert Habeck dürft es in Nürnberg ab Mittwoch so politisch zugehen wie selten zuvor. Eine Premiere bringt die Rheinische Kirche mit – Liturgie geplant durch Chat GPT.

Nürnberg ist bereit für den Kirchentag – der Slogan am Rathaus hängt.

Nürnberg ist bereit für den Kirchentag – der Slogan am Rathaus hängt.

Foto: dpa/Daniel Karmann

Ein buntes Glaubens-, Kultur- und Musikfestival, eine Plattform für kritische Debatten und Gelegenheit für Gemeinschaft – so umschreibt der Deutsche Evangelische Kirchentag sich selbst. Wenn von Mittwoch bis Sonntag 100.000 Menschen bei 2000 Einzelveranstaltungen zur 38. Ausgabe des Kirchentags in Nürnberg zusammenkommen, dürften allerdings die drängenden gesellschaftlichen Debatten im Vordergrund stehen. Es könnte so politisch werden wie selten zuvor. Das zeigt schon die prominent besetzte Gästeliste aus der Politik: Bundeskanzler Olaf Scholz, selbst kein Kirchenmitglied mehr, wird ebenso erwartet wie Vizekanzler Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock.

„Jetzt ist die Zeit“, die Losung des diesjährigen Kirchentages, scheint nicht zufällig an den „Zeitenwende“-Begriff des Kanzlers anzuknüpfen. Jetzt ist die Zeit der Unsicherheit, der Polarisierung, der großen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen, die immer auch ethische und damit für Gläubige relevante Fragen mit sich bringen: Wie kann Schöpfung bewahrt werden, wie soll die Welt von morgen gestaltet werden? Welchen Beitrag können Christen und Christinnen leisten, gerade auch protestantische? Das sollen die zentralen Punkte sein, die sich durch Podien, Workshops und Zusammenkünfte in Nürnberg ziehen werden.

Es ist der erste Kirchentag in seiner alten Form nach Corona. Und der erste seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine, und es könnte ihm eine ähnliche Bedeutung zukommen wie jenem im Jahr 1979. Nicht nur der Veranstaltungsort, damals ebenfalls Nürnberg, ist eine Parallele, auch die Umstände wirken wie ein dunkles Deja Vu: die verhärteten Fronten zwischen Ost- und Westmächten, die atomaren Drohgebärden dort, die Diskussion um Aufrüstung hier. Die Stimmung, geprägt von Unsicherheiten des Kalten Krieges. Der Kirchentag, eine Plattform der Kontroversen zwischen Befürwortern des Wettrüstens und Friedensbewegungen – auch 2023 wird es genau das Thema sein.

„In bewegten Zeiten gemeinsam gestalten“ heißt das Podium mit Kanzler Scholz am Samstag, bei dem er sich zu Krieg und Frieden, aber sicher auch zu Umwelt und Energiewende äußern wird. Fragen aus dem Publikum wird es geben, im Gegensatz zu Helmut Schmidts Rede 1979 – einer Hymne auf die Atomkraft, für die er einst scharf ausgebuht wurde. Ängstlichkeit gehöre nicht zu den christlichen Tugenden, auch nicht bei der Atomkraft, so der damalige Kanzler. In der Amtszeit seines Parteifreundes Scholz wurde nun der letzte Atommeiler abgeschaltet. Der wird, so wie Vizekanzler Robert Habeck (Grüne), vor allem zum umstrittenen Heizungsgesetz Stellung nehmen müssen. Habecks Podium am Freitagvormittag dürfte für Kontroversen sorgen: Der Bundeswirtschaftsminister diskutiert unter anderem mit NRW-Amts- und Parteikollegin Mona Neubaur, dem Aufsichtsratsvorsitzenden von Siemens Energy, Joe Kaeser, sowie der Umweltaktivistin und Sprecherin der Letzten Generation, Carla Hinrichs, über das Thema Verantwortung und Schuld in der Klimakrise „Wer hat`s verbockt? Und was machen wir jetzt?“.

Schon 1979 sympathisierten viele Christinnen und Christen mit der aufstrebenden Ökobewegung. Der Kirchentag 2023 könnte dem Thema weiteren Schwung verleihen, obwohl oder gerade weil er mit Carla Hinrichs auch Klimaaktivsten mit umstrittenen Methoden eine Plattform bietet. Mit 42 Veranstaltungen zum Oberthema „Zentrum Schöpfungsverantwortung“ wird es jedenfalls ein Kirchentag der Klimafrage, die methodischen Punkte hoffentlich nicht ausgespart: Welche Protestformen sind legitim, wo gelangt Widerstand an die Grenzen der „Zweck heiligt die Mittel“-Mentalität? Auch da muss Kirche Haltung zeigen.

Nach zuletzt sinkenden Teilnehmer- und steigenden Kirchenaustrittszahlen will die Großveranstaltung wieder Begegnungen ermöglichen. Ehrenamt und Engagement stärken, Menschen in ihrem Glauben bekräftigen. Bibeldialogarbeiten und Workshops zu kritischen Themen wie Macht und Missbrauch, Weltanschauungen und Verschwörungen oder Geschlechterwelten und Regenbogen sind deshalb wichtiger Teil des Fünf-Tage-Events. Das Programm des 38. Kirchentages ist umfassend, selbstkritisch, offen – und online und per App zusammenstellbar. Denn auch Digitalisierung ist ein Thema.

So wird etwa in Fürth am Freitag ein komplett von Künstlicher Intelligenz gesteuerter Gottesdienst gefeiert. Mit initiiert hat den Programmpunkt  „Alexa, starte den Gottesdienst!“ Ralf Peter Reimann, Internetbeauftragter der rheinischen Kirche. Ob ein KI-Gottesdienst von und aus der Maschine mit Liturgie per Chat GPT sinnvoll ist, oder künftig gar den Pfarrermangel ausgleichen soll, wird anschließend auf einem Podium diskutiert.

Die Marke von 100.000 Menschen, mit der die Veranstalter rechnen, wurde 1979 erstmals geknackt. Auf die Friedensforderungen von damals folgte wenige Monate später  der Nato-Doppelbeschluss, Grundlage für die Stationierung weiterer Atomraketen. Das Wettrüsten ging weiter, bis 1989/90 der Eiserne Vorhang fiel. Mit ihrem vollen Programm bildet die Evangelische Kirche die aktuellen Themen gut ab, darf zugleich nicht (nur) zur Event- und Diskussionskirche werden. „Auch eine kleinere Kirche kann sich mit ihrer Stimme Gehör verschaffen“, so die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus. Bleibt abzuwarten, welche großen Punkte sie machen wird.

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