Interview mit Rául Krauthausen „Die Schwachen werden als Kostenfaktor gesehen, Millionäre als Leistungsträger“

Düsseldorf · Rául Krauthausen setzt sich im Rollstuhl dafür ein, dass Deutschland ein besserer Ort für Menschen mit Behinderung wird. Im Interview erklärt er, was falsch läuft bei der Inklusion und weshalb er weniger verdient als seine Angestellten.

 Rául Krauthausen hinter seinem Laptop

Rául Krauthausen hinter seinem Laptop

Foto: Andi Weiland

Herr Krauthausen, ich möchte eine Frage, die Ihnen häufig gestellt wird, mal umdrehen. Wann haben Sie zuletzt jemanden angestarrt?

Rául Krauthausen Oh Gott, da bin ich bestimmt nicht frei von. Ich fange immer dann an zu glotzen, wenn ich zum ersten Mal sehe, wie eine Person eine bestimmte Situation bewältigt. Zum Beispiel, wie ein Blinder durch einen fremden Raum geht.

Gibt es Orte, die Ihnen bis heute versperrt sind?

Krauthausen Der Berliner Fernsehturm.

Hat der keinen Fahrstuhl?

Krauthausen Doch, aber du darfst da als Mensch im Rollstuhl nicht hoch, weil du nicht evakuiert werden kannst, wenn es brennt. Das ist typisch Deutsch. Weil ja was passieren könnte.

Das heißt, Sie dürften eigentlich in kein hohes Gebäude.

Krauthausen Da sollte man lieber nicht zu genau nachfragen.

Passiert Ihnen das noch häufig, dass Sie nicht in ein Gebäude kommen?

Krauthausen Klar, ganz viele Gebäude sind nicht barrierefrei, besonders Altbauten. Cafés, Restaurants, Bars, Discos. Da ist es eher die Regel als die Ausnahme.

Sie haben mal gesagt, Sie möchten einfach nur Herr Krauthausen sein und nicht „Der Behinderte“. Wie viel Prozent des Tages sind Sie Herr Krauthausen?

Krauthausen Die meiste Zeit. Privat bin ich Rául Krauthausen.

Das heißt, Sie werden nur in solchen Fällen an Ihre Behinderung erinnert, wenn Sie nicht in ein Gebäude kommen?

Krauthausen Oder wenn man mich nicht reinlässt. Oder wenn es Vorurteile gibt. Es gibt ja nicht nur Treppen und Stufen, die Menschen daran hindern teilzuhaben. Sondern so etwas wie den Brandschutz. Oder Menschen trauen sich nicht zu, mit Menschen mit Behinderung umzugehen.

Sie sehen die Welt immer ein bisschen kaputter, sagten Sie mal. Weil Sie die Welt nicht aus 1,80 Meter Höhe sehen, sondern aus Hüfthöhe.

Krauthausen Ich hatte mal ein sehr spannendes Gespräch mit einem Kind. Das Kind wurde von der Mutter gefragt, ob es Lust hat, auf den Markt zu gehen. Das Kind sagte: Nein, ich will nicht, weil ich dann immer Taschen und Zigaretten im Gesicht habe. Damit konnte ich mich sehr gut identifizieren. Ich sehe Hintern und Hüften. Im Bus gucken Kinder im Kinderwagen auch immer vor eine Wand. Für die Abstellplätze hat niemand bedacht, dass die Fenster dort tiefer sein sollten.

Wie kann man überhaupt bei Menschen, die keine Behinderung haben, ein Bewusstsein für Leute mit Behinderung schaffen?

Krauthausen Sie sollten sich vorstellen: Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie ausgeschlossen werden, weil Sie nicht mitgedacht wurden? Und dann fragen Sie sich mal: Wie viele Kollegen mit Behinderung arbeiten in Ihrem Verlag und warum sind es nicht mehr? Wie viele Menschen mit Behinderungen kennen Sie in Ihrem Freundeskreis? Wir halten uns davon ein wenig fern, vielleicht weil uns das Thema unangenehm ist, weil wir mit unserer eigenen Verwundbarkeit konfrontiert werden. Dabei ist Barrierefreiheit für alle sinnvoll. Die Gesellschaft wird älter, wir alle werden älter und sind stärker eingeschränkt. Es betrifft nicht nur die anderen. Davon müssen wir wegkommen.

Obwohl laut Ihrer Aussage zehn Prozent der Menschen in Deutschland eine Behinderung haben, sehe ich wenige von ihnen im Alltag.

Krauthausen Es ist leichter, Menschen auszusortieren, zum Beispiel in Heimen, als eine barrierefreie Gesellschaft zu schaffen. Auch Flüchtlinge werden in Heimen untergebracht und nicht in der Nachbarschaft.

Eine Sache habe ich erst durch die Recherche zu diesem Interview erfahren. Sie haben eine Verdienstobergrenze. Wie bitte?

Krauthausen Aufgrund des so genannten Teilhabegesetzes darf ich nur knapp das Doppelte des Hartz-IV-Satzes verdienen, das sind knapp 700 Euro nach Abzug der Miete. Alles darüber müsste ich anteilig abgeben. Der Staat begründet es damit, dass er mir die Assistenten bezahlt, die mir im Alltag helfen.

Sie verdienen deshalb als Chef des Vereins Sozialhelden weniger als Ihre Angestellten. Rücklagen dürfen Sie auch nur bedingt aufbauen.

Krauthausen Und steuere auf die Altersarmut zu. Menschen mit Behinderung werden behandelt wie Hartz-IV-Empfänger, nur dass wir nicht mehr daraus hinauskommen, weil wir die Behinderung in der Regel ein Leben lang haben.

Sie könnten auch auf die staatliche Unterstützung verzichten.

Krauthausen Dann müsste ich aber 8000 bis 10.000 Euro im Monat verdienen. Das Argument ist, dass behinderte Menschen die Unterstützung der Solidargemeinschaft bekommen und sich deshalb auch an den Kosten beteiligen müssen. Aber ein Millionär bekommt ja auch vermögensunabhängig Kindergeld, warum beteiligt der sich nicht an den Kosten? Die Schwachen werden als Kostenfaktor gesehen, die Millionäre als Leistungsträger. Behinderte Menschen können auch Leistungsträger sein, wenn man sie lässt.

Was schlagen Sie vor?

Krauthausen Dass Menschen Hilfe unabhängig von Ihrem Einkommen erhalten.

Wo hat Deutschland in Sachen Inklusion den größten Nachholbedarf?

Krauthausen Auf jeden Fall bei der Verpflichtung der Privatwirtschaft und beim Ausschluss behinderter Menschen von Wahlen. Wer eine geistige Behinderung und einen Vormund hat, darf nicht wählen. Da ist Deutschland innerhalb Europas eine Ausnahme, es betrifft 80.000 Menschen. Unternehmen können nicht verpflichtet werden, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen. Da kommen wir nur mit Gesetzen und Quoten weiter. Marktwirtschaftlicher Druck reicht nicht. Auch bei der Inklusion an Schulen gibt es große Mängel. Da wird immer noch nicht darüber nachgedacht, die Förderschulen grundsätzlich abzuschaffen. Die Maschine ist eben geölt.

Wie meinen Sie das?

Krauthausen Es ist immer leicht, Menschen, die unbequem sind, auszusortieren, und den Eltern so viele Gründe vorzusetzen, warum es ihrem Kind auf der Förderschule besser geht. Aber man schaut nie, wie es den Kindern auf der Förderschule ergeht. Am Ende hat man ganz viele Menschen, die nicht so qualifiziert sind, wie sie hätten qualifiziert werden können. Die landen dann in Behindertenwerkstätten und werden ausgenutzt. Dazu kommt: Da gibt es immer viel Nichtbehinderten-Gelaber, wenn es um Menschen mit Behinderung geht. 90 Prozent des Diskurses zu Behinderten wird von Nichtbehinderten geführt. Das ist dasselbe, als wenn Männer über Frauen reden. Ein Grundschullehrer oder ein Gymnasiallehrer hat nicht das Mandat zu entscheiden, welches Kind auf die Schule darf und welches nicht. Behinderte Menschen müssen sich selbst vertreten können.

Ist sich die Forschung einig, dass es besser ist, wenn Menschen mit Behinderung auf eine Regelschule gehen?

Krauthausen Jedes Kind hat das Recht auf adäquate Bildung. Ob es blond ist, eine Behinderung hat oder eine andere Hautfarbe, das ist zweitrangig. Aber momentan passen wir in Deutschland Kinder der Schule an und nicht die Schule den Kindern. Eine Schule für alle ist für alle besser. Heißt aber auch, dass sie für alle funktionieren muss. Viele Kinder mit Behinderung gehen in einer Regelschule unter. Das liegt aber auch an der Inkompetenz von Pädagogen oder des Schulsystems, das die Ressourcen nicht zur Verfügung stellt und dann bestimmte Merkmale von Kindern als Anlass nimmt, diese wieder auszusortieren. Anstatt zum Beispiel das Thema Mobbing grundsätzlich anzupacken. So wie man einer Frau sagt: Wenn du nicht belästigt werden möchtest, zieh keinen Minirock an, so sagt man behinderten Menschen: Wenn du nicht gemobbt werden möchtest, geh doch auf eine Sonderschule.

Dann sagen Leute: Okay, Inklusion von Körperbehinderten mag ja funktionieren, aber was ist mit den geistig Behinderten? Die können ja niemals auf denselben Stand gebracht werden.

Krauthausen Es werden auch nicht alle Menschen Astronauten. Man muss doch rechtzeitig lernen, dass man bestimmte Dinge nicht kann, und das ist auch okay. Deshalb muss man diese Leute doch nicht auszusortieren. Kinder mit geistiger Behinderung lernen auf einer Regelschule mehr, als wenn sie unter ihresgleichen sind, da zeigen Untersuchungen. Und je früher Kinder mit Behinderung konfrontiert werden, desto weniger Angst haben sie im Laufe ihres Lebens vor Behinderungen. Kinder mit Behinderung sitzen nicht nur schreiend in der Ecke und werfen mit Stühlen.

Dürfen wir, wenn es um Inklusion geht, über Geld reden?

Krauthausen Inklusion ist ein Menschenrecht, deshalb dürften wir es eigentlich nicht.

Also braucht auch jeder S-Bahnhof eine Rampe oder einen Fahrstuhl?

Krauthausen Klar, auch weil es nicht nur um behinderte Menschen geht. Das hilft ja auch Menschen, die mit dem Rollator unterwegs sind. Die Politik agiert, als ob Menschen mit Behinderung jetzt aus ihren Erdlöchern aufgetaucht wären und die Weltherrschaft an sich reißen. Dabei gab es uns schon immer. Wieso hat man nicht schon vor 100 Jahren darüber nachgedacht, als die U-Bahn in Berlin gebaut wurde? Da gab es auch schon Aufzüge. Inklusion ist eine Machtfrage.

Wie meinen Sie das?

Krauthausen Weiße, heterosexuelle, nicht-behinderte Männer müssen Macht abgeben an Frauen, an Behinderte, Migranten. Damit tun sie sich schwer. Dabei geht es nur um Gerechtigkeit.

Warum kosten Menschen mit Behinderung eigentlich nicht bloß Geld?

Krauthausen Wenn Menschen in die Lage versetzt werden, etwas zu tun, was sie treibt, können sie auch Firmen gründen und Arbeitsplätze schaffen. Menschen mit Behinderung sind auch Kunden. Wahrscheinlich gäbe es die Hälfte unseres Gesundheitssystems nicht, wenn wir keine Menschen mit Behinderung hätten. Untersuchungen zeigen, dass jede Stufe am Eingang eines Drogeriemarktes 50 Prozent weniger Kunden bedeutet. Das betrifft nicht nur Behinderte, sondern auch die gestresste Mutter mit dem Kinderwagen. Und eines noch.

Ja?

Krauthausen Haben nicht auch Menschen ohne Behinderung ein Recht darauf, mit Menschen mit Behinderung zusammenzuleben? Auch Menschen mit Behinderung können Ihnen etwas geben, anstatt immer nur in Interviews zu jammern.

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