Zwischen einem und zwölf Jahren Niederlande wollen Sterbehilfe-Gesetz auf Kinder ausweiten

Analyse | Den Haag · Analyse Die Niederlande wollen es ermöglichen, dass auch das Leben unter Zwölfjähriger beendet werden darf, die unheilbar krank sind und unerträglich leiden. Der Riss in der Frage geht auch durch die christlichen Parteien.

 Eingang des Bürogebäudes der 'Levenseindekliniek' in Den Haag. (Archivfoto)

Eingang des Bürogebäudes der 'Levenseindekliniek' in Den Haag. (Archivfoto)

Foto: laif

Einmal mehr haben die Niederlande vor einigen Tagen Schlagzeilen mit einer neuen Sterbehilfe-Regelung gemacht. Demnach kommen Kinder zwischen einem und zwölf Jahren künftig für „aktive Lebensbeendigung“ infrage, wenn sie durch unheilbare Krankheit aussichtslos und unerträglich leiden, ihr Tod absehbar ist und es keine Alternative gibt, dieses Leiden zu lindern. Bislang konnten Ärzte als letztes Mittel palliative Sedierung einsetzen. Zudem haben Eltern der betroffenen Kinder die Möglichkeit, lebensnotwendige Medizin absetzen zu lassen.

Das internationale Echo war aufgeregt, wie meist, wenn es um Sterbehilfe und die Niederlande geht; die erwartete Zahl der tatsächlichen Fälle allerdings dürfte sehr gering sein. Das Ministerium für Volksgesundheit in Den Haag geht davon aus, dass fünf bis zehn Kinder jährlich betroffen sind. Laut Minister Ernst Kuipers, der die Details der Regelung ausarbeiten wird, ist es das Ziel, diesen Kindern ein „menschenwürdiges Lebensende“ zu ermöglichen. Noch in diesem Jahr soll sie in Kraft treten.

Um den Schritt einzuordnen und den Kontext zu begreifen, empfiehlt es sich, die niederländische Gesellschaft in ihren Nuancen zu betrachten. In weiten Teilen gibt es eine liberale Auffassung in puncto aktiver Sterbehilfe, für die übrigens der in Deutschland nach den Krankenmorden der Nationalsozialisten belastete Begriff „Euthanasie“ verwendet wird. Ein pragmatischer, selbstbestimmter Umgang mit dem Thema gehört in progressiven Kreisen zum Selbstverständnis und ist vielfach, aber längst nicht überall Konsens.

Was vielfach ausgeblendet wird: Es gibt in den Niederlanden außer den liberalen Milieus auch tiefgläubige Regionen, die ähnlich wie in den Vereinigten Staaten als „Bibelgürtel“ bezeichnet werden. Zudem besteht die aktuelle Regierungskoalition zur Hälfte aus christlichen Parteien: den Christdemokraten sowie der fundamental-calvinistischen Christenunie. Die andere, größere Hälfte bilden die beiden rechts- beziehungsweise linksliberalen Parteien VVD und D66. Damit bildet die Koalition in Den Haag die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse recht genau ab. Religiöse Bedenken spielen durchaus eine bedeutende Rolle, weshalb unter dem Strich eine pragmatische Übereinkunft steht, die das alte „Poldermodell“ des Landes widerspiegelt: Politik im Konsens zu machen, unter Einbeziehung möglichst aller Beteiligten.

Im aktuellen Fall zeigt sich dies schon im Namen: Aufmerksamen Lesern mag aufgefallen sein, dass es sich nicht um eine Gesetzesnovelle, sondern nur um eine „Regelung“ handelt. Grund: Das Sterbehilfegesetz, 2002 als erstes weltweit in Kraft getreten, gilt für Erwachsene und Jugendliche, wobei zwischen zwölf und 16 Jahren Zustimmung von Eltern oder Vormund, von 16 bis 18 ein Gespräch mit diesen obligatorisch ist. Entscheidender Aspekt neben den Kriterien, die den medizinischen Zustand der betreffenden Person festlegen, ist deren Einwilligungsfähigkeit.

Dies trifft auf Kinder unter zwölf Jahren nicht zu. Daher strebt man nun, wie auch im Fall von Babys bis zu einem Jahr, lediglich eine ergänzende „Regelung“ an statt einer Erweiterung des Gesetzes. Gerade die Christenunie, für die das Thema ethisch besonders heikel ist, würde einer solchen auf Kinder zielenden Erweiterung des Gesetzes nicht zustimmen. Auch die nun angekündigte Änderung müsse „ausreichende Garantien“ umfassen, sagte die Fraktionsvorsitzende Mirjam Bikker. Zudem kämen dafür nur seltene Situationen infrage, in denen Kinderpalliativmedizin keine Linderung böte. Dass es solche Situationen gebe, wisse die Partei, so Bikker.

Ihr Amtskollege Jan Paternotte von D66, auf ethischem Gebiet Gegenpol in der Koalition, spricht von einem „schwierigen, aber wichtigen Beschluss“, der für die betroffenen Kinder aber sehr bedeutend sein könne. Innerhalb dieses Spektrums wird nun der Kompromiss ausgearbeitet – schwierig, aber nicht unmöglich, solange der Ausnahmecharakter erhalten bleibt und strenge juristische Kriterien im Sinne Bikkers gewährleistet sind.

Unabhängig davon gibt es in Teilen der Gesellschaft prinzipielle Vorbehalte. Yvonne Geuze, politische Beraterin der christlichen Niederländischen Patientenvereinigung, blickt sorgenvoll auf die Entwicklung: „Gott gibt und nimmt das Leben. Für uns als Menschen ist es zu groß, über Leben und Tod zu entscheiden“, schickt sie voraus. Auch verweist sie auf die besonders anfällige Position eines Kindes. „Beim Sterbehilfegesetz ist ein freiwilliges, gut durchdachtes Ersuch entscheidend. Hier fehlt dieses Element. Kinder sind beeinflussbar, ihre Perspektive in ihrem Leiden ist schwierig festzustellen.“

Zudem fürchtet Geuze, dass mit der Regelung eine Dynamik in Gang kommt: Aktuell gehe es um Kinder, deren Tod absehbar ist. Was aber ist mit jenen, die eine schwere Krankheit haben, aber noch Jahre zu leben? Wird es für sie später auch eine Regelung geben? Schließlich weist sie noch auf die Palliativmedizin hin, deren Möglichkeiten für Kinder „noch nicht optimal“ seien, sodass die „Route aktiver Lebensbeendigung“ derzeit womöglich zu früh käme.

Dem gegenüber steht die niederländische Kinderärzte-Organisation. In einem Positionspapier verweist sie auf die große Sorgfalt, mit der Entscheidungen zur Lebensbeendigung getroffen würden. Diese Möglichkeit solle auch Kindern offenstehen. Nach einer Studie von 2019 teilen 84 Prozent der befragten Spezialisten diese Einschätzung.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort