Das Feld ist nicht mehr heilig Die hässliche Kehrseite des niederländischen Fußballs

Amsterdam · Das Hooligan-Problem des niederländischen Fußballs zeigt sich in diesem Frühjahr regelmäßig. Die Ursachen liegen nicht nur in den Stadien.

 Nach dem Spiel zwischen AZ Alkmaar und West Ham United kam es zwischen Fans zu Unruhen auf der Tribüne (Archivbild).

Nach dem Spiel zwischen AZ Alkmaar und West Ham United kam es zwischen Fans zu Unruhen auf der Tribüne (Archivbild).

Foto: dpa/-

Die pittoreske Käsestadt Alkmaar ist seit Mitte Mai bekannter denn je. Nicht im positiven Sinn freilich, denn nach dem Ausscheiden ihres Fußballclubs AZ gegen West Ham United im Halbfinale der Europa Conference League drangen dessen gewaltbereite Anhänger in den Block ein, in dem neben Fans auch Angehörige und Freunde der Gäste aus London saßen. Die Bilder des Ansturms schwarzer Kapuzenpullover gingen um die Welt. Der englische Boulevard formulierte es deutlich: „Hollands Nacht der Schande“, kommentierte die Daily Mail, die auch von einer „neuen Welle niederländischer Hooligans“ sprach.

Dass gewalttätiges Fan-Verhalten an jenem Abend ein neues Niveau erreicht hatte, fand tags darauf auch Michael van Praag, der niederländische Vorsitzende der Uefa-Kommission für Stadien und Sicherheit. Zu seiner Zeit als Vorsitzender von Ajax Amsterdam, sagte er dem TV-Sender NOS, habe dessen Anhang auch Kämpfe gegen andere Fangruppen ausgetragen. „Und das war schrecklich. Aber von Alten, Frauen und Kindern ließen sie die Finger. Das war eine goldene Regel. Bei AZ geschah das dennoch. Wenn du Angehörige von Spielern angreifst, ist eine Grenze überschritten.“

Über diese Grenze wird in den Niederlanden seit Wochen diskutiert. Die Serie gewaltsamer Fan-Ausschreitungen im Profi-Fußball reißt nicht ab. Es ist die hässliche Kehrseite des niederländischen Fußballs, der mit Offensivgeist, technischer Versiertheit und Positionswechseln weltweit Herzen eroberte. Eine unvollständige Liste der Vorfälle: Anfang April erlitt Ajax-Spieler Davy Klaassen während des Pokalduells bei Feyenoord Rotterdam eine blutende Wunde am Kopf, nachdem er von einem Feuerzeug getroffen wurde. Eineinhalb Wochen später wurde das Zweitliga-Derby zwischen Breda und Tilburg abgebrochen, nachdem erst Feuerwerk, dann Bierbecher auf dem Rasen landeten.

Anfang Mai ließ die Polizei in Amsterdam nach mehrfachen Warnungen einen Metro-Zug stilllegen und nahm mehr als 150 Alkmaar-Fans fest, die auf dem Weg zum häufig als jüdisch wahrgenommenen Kontrahenten Ajax antisemitische Lieder skandierten. Auffällig ist dabei jedoch vor allem das Vorgehen der Polizei, denn entsprechende Parolen wie „Hamas, Hamas, Juden ins Gas!“ schallen den Amsterdamern bei zahlreichen Auswärtsspielen entgegen.

Der bisherige Tiefpunkt: der Spieltag Mitte Mai, als in den beiden höchsten Ligen sieben Matches zumindest unterbrochen wurden. Das Duell zwischen Absteiger FC Groningen und Ajax Amsterdam wurde nach nicht einmal zehn Minuten sogar abgebrochen, nachdem wiederholt Feuerwerk auf den Rasen geworfen wurde.

Im April hatte der Fußballverband KNVB die Regeln verschärft: seither wird das Spiel unterbrochen, sobald Gegenstände auf das Feld fliegen. Wiederholt sich dies, erfolgt – wie in Groningen – der Spielabbruch. Wird ein Spieler oder Schiedsrichter getroffen, ist der ‚wedstrijd‘ (Wettstreit) umgehend beendet. „Das Feld ist heilig“, hieß es in einer Mitteilung des KNVB, unterzeichnet von der Profifußball-Direktorin Marianne van Leeuwen.

Dass dieser Grundsatz in Teilen der Fanszene nicht gilt, hält den Verband nicht erst seit diesem Frühjahr auf Trab. Das interne „Auditteam Fußball und Sicherheit“ lässt sich bereits seit sechs Jahren vom Utrechter Consulting-Büro Berenschot beraten. Projektleiter Vincent van der Vlies äußert sich zu den Ursachen nuanciert: „Über die aktuellen Vorfälle haben wir noch keine Forschungsergebnisse, und von Spekulationen halten wir uns fern. Allgemein gilt natürlich, dass gegen Ende der Saison die Emotionen häufig überkochen, weil es um viel geht.“

Was die langfristige Perspektive betrifft, bringt Van der Vlies nicht zuletzt die in der Corona-Pandemie aufgestaute Anspannung ins Spiel. „Anderthalb Jahre gab es keine Fans bei Spielen. Seit sie wieder zugelassen sind, haben wir eine neue, junge Generation 14- bis 22-Jähriger in den Stadien. Sie kannten die Verhältnisse vorher nicht und haben sich während der Lockdowns sehr gelangweilt. Was auch eine Rolle spielt: Man ahmt sich gegenseitig nach, jeder will, um es so zu sagen, einen Platz auf dem Affenfelsen erobern“, sagt der Projektleiter im Gespräch mit unserer Redaktion.

Die jüngsten Bilder aus Alkmaar scheinen ihn insofern zu bestätigen, als dass die Angreifer im West-Ham-Block auffallend jung waren. Auch der TV-Sender NOS beschäftigte sich zuletzt mit dem Phänomen und zitiert den Verhaltenswissenschaftler Otto Adang von der Rijks Universiteit Groningen. „Seit der Pandemie ist eine Gruppe entstanden, die viele Dinge nicht gewöhnt ist. Das Gleiche sieht man auch beim Ausgehen. Diese Jugendlichen sind an bestimmte Regeln nicht gewöhnt und suchen nach Grenzen.“

Vincent van der Vlies weist derweil auf einen weiteren Faktor: auch die Gesellschaft hat sich in dieser Zeit verändert. „Die Polarisierung hat zugenommen, es gab häufiger Krawalle gegen Polizei und Regierung.“ Sprich: wer in einem angespannten gesellschaftlichen Klima wie dem derzeitigen in den Niederlanden sozialisiert wird, übernimmt solches Verhalten auch leicht im Stadion. Auffällig ist, so Van der Vlies, dass zumindest im ersten halben Jahr nach der Pause die Zahl der Vorfälle nur unwesentlich höher lag als zuvor. Verändert habe sich aber deren Charakter: „Früher ging es mehr um Feuerwerk, jetzt um das Werfen von Dingen und Gewalt.“

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