Nachruf auf Philip Roth Schreiben, wie das Leben eben ist

Düsseldorf · Im Alter von 85 Jahren ist einer der größten Erzähler unserer Zeit gestorben: Philip Roth. Sein Kampf mit dem Schreiben ist nun vorbei.

 Philip Roth in New York (Archivbild vom 08.09.2008).

Philip Roth in New York (Archivbild vom 08.09.2008).

Foto: dpa/Richard Drew

New York Im Sommer 1998 - so beginnt diese Geschichte - gesteht Coleman Silk seinem Nachbarn, dass er im Alter von 71 Jahren eine Affäre gehabt hatte. Er, der Professor für klassische Literatur, mit einer 34-jährigen Putzfrau. Damit ist das Tableau bereitet, für das Philip Roth in „Der menschliche Makel“ nur einen Satz braucht - und für den ihn die einen als größten Erzähler lieben und verehren, die anderen ihn aber als Sexisten schmähen. Ihr Vorwurf: Er betreibe im Grunde nichts anderes, als seinen ewig währenden Männlichkeitswahn in literarisch anspruchsvoller Verpackung unters Volk zu bringen.

Wie nur wenig andere hat Roth die Gemüter erregt. Das allein ist zwar noch kein Ausweis von Qualität. Doch dass man an diesem Schriftsteller einfach nicht vorbeikommen konnte, ist ein untrügliches Indiz für seine fast einsame Größe, seine Wirkmacht. Am Mittwoch ist Roth, einer der besten Erzähler unserer Zeit, im Alter von 85 Jahren gestorben.

Selbst auferlegtes Schreibverbot

Aber hatte er sich nicht schon früher quasi ausgelöscht, beziehungsweise von der Liste der Lebenden radiert? Indem er bereits vor sechs oder sieben Jahren seiner entsetzten Leserschaft verkündete, das Schreiben mache ihm keinen Spaß mehr und „Nemesis“ sei sein letzter Roman? Lieber gehe er schwimmen, schaue Baseball, gehe ins Kino und höre Musik, esse gut, sagte er. Damit er sein selbst auferlegtes Schreibverbot nicht vergessen konnte, soll er vorsichtshalber ein Zettelchen an den Kühlschrank geklebt haben: „The struggle with writing is over.“ Der Kampf mit dem Schreiben ist vorbei.

Schwer zu sagen, ob Roth die Kraft fehlte oder ob ihm das Kämpfen irgendwann nicht mehr behagte. Ohnehin schaute er erschreckend nüchtern und schonungslos aufs Leben. Für ihn gab es Punkte, an denen sich Widerstand zu leisten nicht mehr lohnte.

Immer wieder Nathan Zuckerman

Das Alter ist eben keine Schlacht, die es zu schlagen gilt, sondern nur noch ein Massaker. Diesen Satz trug Roth wie eine Fahne vor sich her, dabei stammte er ursprünglich nicht von ihm. Der erste, der diese wahre Ungeheuerlichkeit über die Lippen brachte, war kein geringerer als Nathan Zuckerman, seine berühmteste und dauerhafteste Romanfigur. Zuckerman, ein aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammender jüdischer Schriftsteller, war sein Alter Ego. In immerhin neun Roth-Romanen versuchte stellvertretend den tagtäglichen Lebenskampf irgendwie zu meistern, wenigstens zu bestreiten. Zuckerman war Roths Stimme, seine Sorgen, seine Hoffnung, sein Wahrheitssucher.

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Letzteres war die Bestimmung des Philip Roth, war seine Sehnsucht und eine Art Zwang, der seine Kritiker zugleich mit reichlich Nahrung versorgte. Natürlich gehört dazu der Sex, die Derbheit und das Vulgäre, das man einfach als typisch männlich abkanzeln kann.

Doch bleibt dann die Geschichte dahinter verborgen: Bei Roth hat Sex immer auch etwas Untröstliches an sich, etwas Lebensverzweifeltes. Es sind diese traurigen und manchmal auch letzten Versuche, das Alter mit all seinen Demütigungen durch Sex zu kompensieren. Das hat Roth einmal das „dreckige Geheimnis“ seiner Romane genannt: Nicht der Sex ist es, sondern die Zerstörungskraft der Wut. Und seine Bücher sind voll davon.

Kleine Rebellionen gegen die Endlichkeit

Vieles wird dann zu einem großen Aufschrei, weil alles Aufbegehren gegen Alter, Tod und Ewigkeit letztlich sinnlos bleiben muss. Gerade diese Aussichtslosigkeit machen unsere Lebenskämpfe so tragisch. Jeder Roman ist der Versuch, der drohenden Endlichkeit ein Schnippchen zu schlagen. Ein paar Widerstände eben, kleine Rebellionen.

Doch warum soll man all diese Lebensschlachtfelder unerwähnt lassen: der Sex, die Gier und die Liebe, das Massaker des Alters und die Ungerechtigkeit des Lebens? Für ihn ist es darum sinnvoll gewesen, dass immer wieder das fort- und weitergeschrieben werde, was immer schon da war.

Selbsthasser und Pessimist

Philip Roth, der Enkel jüdischer Einwanderer aus Osteuropa, ist stets ein großer Pessimist gewesen und ein noch größerer Selbsthasser. Er hat sich an all dem abgearbeitet – am Älterwerden und am Judentum, an der Liebe, auch an Amerika. War das überhaupt sein Land? Auch das stellte er infrage. Die amerikanische Republik sei 238 Jahre alt und seine Familie seit 120 Jahren dort. „Sollte ich mich damit noch nicht als amerikanischer Schriftsteller qualifizieren, lassen Sie mir bitte wenigstens die Einbildung“, sagte er noch vor vier Jahren.

Seine Zweifel waren umfassend, literarisch etwa in seinem Roman „Nemesis“. Eine Geschichte über die verheerende Polio-Epidemie in den USA. Drei Bücher waren „Nemesis“ vorangegangen, die zu diesem Erzählkontext gehören: „Jedermann“, „Empörung“ und „Die Demütigung“. Alles tragisches Lebensvollzüge: eines Studenten, eines alten Bühnenschauspielers, eines Namenlosen. Eine große existenzielle Einsamkeit durchweht diese Bücher.

Souveräne Generalabrechnung

In „Nemesis“ kommt noch einmal alles zusammen, und es ist schlichtweg grandios, mit welcher erzählerischen Gelassenheit Roth seine Themen bündelt. Eine souveräne Generalabrechnung - nicht mehr und keinen Deut weniger. Sein Held diesmal ist Bucky Cantor, 23 Jahre alt, famos und muskelstrotzend, bis der Virus der damals unheilbaren Kinderlähmung in sein Leben eindringt.

Wer übt hier Rache an unschuldigen Menschen? Wer ist für das Schicksal von Bucky verantwortlich, dessen Mutter bei der Geburt gestorben ist und dessen krimineller Vater sich aus seinem Leben gestohlen hat; Bucky, der nicht zur Front darf; Bucky, der an Polio erkrankt und im Rollstuhl sitzt - ein Krüppel, der an seinem jüdischen Gott verzweifelt, sich von seiner Verlobten abwendet und verbittert eine trübe Existenz führt? Buckys Antwort ist eindeutig und bodenlos: „Jetzt begann er zu sehen, dass die Dinge wegen Gott nicht anders sein konnten.“ Und sein Zorn wächst auf „Gott, Schöpfer dieses Virus“.

„Nemesis“ ist viel mehr als die fatale Geschichte des Juden Bucky Cantor, „Nemesis“ ist auch ein nationales Drama und eine weltgeschichtliche Tragödie. Der Hinweis auf den „Memorial Day“ steht bei einem wie Philip Roth nicht ohne Grund schon im ersten Satz.

„Ekstase der Scheinheiligkeit“

Aber bei Roth gab es in den 27 Romanen nie ein Lamentieren über all das. Er hat immer nur erzählt, wie es war, weil Vieles immer schon so gewesen ist. So auch im Roman „Der menschliche Makel“, der mit einer Affäre beginnt und den Makel eines unbedacht gesprochenen Wortes des Altphilologen Coleman Silk folgen lässt.

Seminarteilnehmer bezeichnet er als „dunkle Gestalten“, und mit den dann folgenden Rassismus-Vorwürfen gerät er in einen Strudel von Gerüchten und Lügen. Alte Rechnungen werden beglichen und Machtkämpfe ausgetragen, Bedrohungen folgen; Silks Frau stirbt an einen Schlaganfall. Seine Kinder wenden sich von ihm ab.

All das wird von Nathan Zuckerman aufgeschrieben. Die Geschichte steigert sich zu einer „Ekstase der Scheinheiligkeit“, schreibt Roth mit Zuckermans Stimme, ein Schaulaufen der „selbstgerechten Heuchler“ beginnt. Also schreiben, was war und was immer schon gewesen ist, bis zur Selbstentblößung.

Menschheitstragödien aus Einzelschicksalen

Natürlich hätte Philip Roth den Nobelpreis verdient, mehr als viele andere Preisträger. Dass ausgerechnet im Jahr seines Todes Stockholm niemanden ehrt, ist fast so, als hielte der Literaturbetrieb ausnahmsweise ihm zu Ehren den Atem an.

Das ist natürlich zu pathetisch. Doch wer die Querelen rund um die Nobelpreis-Jury mitverfolgte, konnte glauben, dass Roth selbst diese Geschichte erdacht haben könnte. Nicht aus Rache. Sondern weil er um jene menschliche Makel wusste, die zwar alle kennen, die er aber zu benennen und in literarische Stoffe zu verwandeln wagte. Seine Geschichten entstammen allesamt dem Leben. Sie sind also altbekannt. Doch Philip Roth verstand es, aus Einzelschicksalen Menschheitstragödien zu formen.

(los)
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