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65. Geburtstag Künstler Ai Weiwei - „Für mich gibt es nur das Jetzt und die Vergangenheit“

Lissabon/Peking · Der Konzeptkünstler und Regimekritiker Ai Weiwei feiert am 28. August 2022 seinen 65. Geburtstag - von Amts wegen, obwohl er gar nicht an diesem Tag geboren ist. Sein Leben in Portugal genießt er. Der Ausblick auf die Zukunft fällt trotzdem düster aus.

Ai Weiwei - vom Künstler zum Regimegegner
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Ai Weiwei - vom Künstler zum Regimegegner

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Foto: dpa/Michael Kappeler

Es ist ein Geburtstag, der keiner ist. Der berühmteste chinesische Künstler der Gegenwart, Ai Weiwei, wird am Sonntag 65 Jahre alt - so steht es zumindest in seinem Pass. Aber eigentlich ist er längst 65, weil er in Wirklichkeit am 18. Mai 1957 geboren wurde. „Mein Geburtstag wurde am falschen Tag registriert, weil meine Eltern nicht ihre Heiratsurkunde bekommen hatten, als meine Mutter mit mir schwanger war“, erzählt Ai Weiwei der Deutschen Presse-Agentur. „Ich wäre sonst als uneheliches Kind angesehen worden und zur Zielscheibe von Diskriminierung geworden.“

Er mache sich ohnehin nichts aus Geburtstagen. In seiner Kindheit seien sie nicht gefeiert worden. Erst nach der Reform und Öffnung in China seit den 80er-Jahren hätten die Menschen westliche Bräuche übernommen. „Normalerweise würde ich meinen Geburtstag vergessen, wenn ich nicht daran erinnert würde.“ Erfüllt blickt der 2015 aus China nach Berlin ausgereiste Ai Weiwei auf sein heutiges Leben in Portugal. Seit zwei Jahren besitzt er auf dem Land in Montemor-o-Novo - rund hundert Kilometer östlich von Lissabon - eine abgeschiedene, mehrere Hektar große Finca mit vielen Hunden, Katzen und Hühnern.

Er hat nicht nur die „immer grauen Tage“ in Berlin für „300 Tage Sonne im Jahr“ eingetauscht, wie er einmal sagte. „Mein Leben war in den 65 Jahren noch nie so zufriedenstellend wie in Portugal“, bilanziert Ai Weiwei. „Das portugiesische Leben ist langsam, und es gibt nicht viel Wettbewerb, Arroganz oder Diskriminierung, die gemeinhin in der modernen Gesellschaft zu sehen ist“, findet der Künstler. „Ich habe eine gute Zeit und genieße die Natur hier sehr.“ Er vermisse China, habe es aber verlassen, weil er nicht wolle, dass sein Sohn „das Gleiche durchmachen muss wie ich“.

Mit Sorge blickt Ai Weiwei auf die verschärfte Verfolgung in seiner Heimat unter Staats- und Parteichef Xi Jinping, sieht aber ein Muster: „Es erscheint absurd und ist an der Oberfläche schwer zu verstehen, aber es ist kein besonderes Phänomen in China“, sagt Ai Weiwei. Schon seit der Zeit vor Gründung der Volksrepublik habe es rund 50 politische Bewegungen und Kampagnen in der Kommunistischen Partei gegeben. „Jede politische Bewegung führte zu einer politischen Verhärtung der Gesellschaft.“ Manche dauerten Dutzende von Jahren.

Ob der Westen naiv gewesen sei, an „Wandel durch Handel“ zu glauben? Der Künstler sieht in dem - gerade in Deutschland gepflegten - Leitmotiv nur Ausflüchte. „Seit Beginn der Globalisierung hat der Westen fast drei Jahrzehnte lang Flitterwochen mit China erlebt“, sagt Ai Weiwei. „In diesen drei Jahrzehnten hat der Westen wieder jene armen, rückständigen und autoritären Gesellschaften durch Globalisierung ausgebeutet und geplündert.“ Es sei nur ein „Vorwand“ gewesen, anzugeben, dass China mit zunehmendem Wohlstand schon demokratisch werde. „Ich denke, dass der Westen niemals wollte, dass China wirklich stark oder demokratisch wird“, sagt Ai Weiwei. „Das ist mein intuitiver Gedanke.“

Lange galt Ai Weiwei als das „soziale Gewissen“ Chinas, hat die Widersprüche des Landes aufgezeigt und sich mit dem Unrechtssystem angelegt. Es machte ihn zur politischen Figur, brachte ihn in Haft. Als Sohn des verfolgten, erst spät rehabilitierten, berühmten chinesischen Dichters Ai Qing hatte Ai Weiwei in der Verbannung eine harte Kindheit. Seine Werke und Aktionen werden heute oft schwer verstanden. Er hat sich nie Normen unterwerfen wollen. „Von Anfang an lehnte ich es ab, mich von etablierten Praktiken und konventionellen Regeln einschränken zu lassen“, schreibt er in seiner Ende 2021 in 14 Sprachen erschienenen Autobiografie „100 Jahre Freud und Leid“.

Die internationale Anerkennung ist groß. Was will er in Zukunft noch erreichen? „Für mich gibt es nur das Jetzt und die Vergangenheit“, sagt Ai Weiwei. „Ich habe keine Fantasie, wie die Zukunft aussehen wird.“ Dann holt er plötzlich ganz weit aus und blickt vielleicht mit einer gewissen Altersweisheit auf die Welt: „Die Menschen wiederholen die gleichen Fehler und behalten die gleiche Engstirnigkeit und Kurzsichtigkeit, die dazu führen könnte, dass die ganze Menschheit keine Zukunft mehr hat.“

(dw/dpa)
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