Schauspieler Mathieu Carrière Der ewige Jüngling

(RP). Er trägt seine Schlüssel an einer langen Schnur um den Hals wie ein Straßenkind, als er die Tür öffnet zu seiner Altbauwohnung in Hamburg-Altona. Wie alt muss Mathieu Carrière wohl werden, um nicht mehr wie ein Jüngling zu wirken?

Wie der jugendliche Liebhaber in einer Shakespeare-Tragödie – inzwischen eben mit weißem Haar. Oder wie der verwöhnte Sohn eines steinalten Industriellen in einer dieser "Derrick"-Folgen. Der ewige Jüngling bittet jedenfalls in seine Küche. Da sitzen ein paar Tänzerinnen am Tisch, speisen Nudeln mit Meeresfrüchten. Es riecht delikat. Estragon vielleicht.

Carrière tanzt jetzt auch. Im Fernsehen in der RTL-Show "Let's dance". "Das macht irre viel Spaß", sagt er, weil die Show so professionell sei und die Tanzlehrerin so anspruchsvoll und die Mittänzer so unheimlich nett. Und wenn man dann ein wenig lächelt, sagt er, dass er das vollkommen ernst meine. Natürlich passt das gar nicht zu dem Carrière, den man aus den Talkrunden kennt, wo er den arroganten Schnösel gibt, manchmal auch den Grobian. Etwa wenn er in einer Sorgerechtsdiskussion bei N24 poltert, in Deutschland brauche man fürs Autofahren einen Führerschein, wer ein Kind erziehen wolle, brauche nur Titten.

Man könnte nun sagen, dass er eben ein Provokateur ist, ein Sprücheklopfer und Gewohnheitsrebell, ein eitler Querulant, der immer so derbe Sätze bellt, um zu testen, wie weit er gehen kann, wie lange die Öffentlichkeit ihn noch lieb hat, diesen ungezogenen, liebeshungrigen Jungen. Vielleicht provoziert er auch nur, weil er weiß, wie die Medien funktionieren, und glaubt, dass er im Gespräch bleiben muss. Vielleicht sagt er aber auch manchmal die Wahrheit, auch wenn sie keiner hören will.

Einmal ist er jedenfalls zu weit gegangen. Da war seine Provokation plötzlich kein Spiel mehr, keine heimlich willkommene Abwechslung für langweilige Talkrunden. Dieses eine Mal hat er dafür gesorgt, dass manche heute noch sagen: Carrière – das ist doch der mit dem Kreuz.

Ja, Mathieu Carrière hat sich ans Kreuz binden lassen. 2006 war das, und er dachte, es sei eine gute Art, Aufmerksamkeit zu schaffen für sein großes Thema: Vaterrechte. Er sagt lieber, dass er für Kinderrechte kämpft. Vor allem für das Kinderrecht auf beide Elternteile – leben die nun miteinander oder nicht. Er ist selbst Vater einer Tochter, für die er kein Sorgerecht bekam.

"Trennungskinder fühlen sich von ihren Vätern genauso im Stich gelassen wie Jesus am Kreuz von seinem Vater", sagt Carrière. Die Aktion bereut er nicht. "Obwohl sie mich drei Jahre Aufträge gekostet hat. Ich stand auf einer schwarzen Liste." Die Verbrennung einer Kinderpuppe hätten sie auch noch geplant gehabt, er und die anderen Vaterrechtler, dann aber doch lieber sein gelassen. Und dann sagt er noch, dass die Aktion seine Idee gewesen sei. Und zumindest das müsste er nicht zugeben.

Carrière hat also gebüßt für seinen blasphemischen Auftritt, indem er erst mal nicht mehr aufgetreten ist. Gearbeitet hat er während dieser Zeit im Ausland. Weil er fließend Französisch spricht, ist das für ihn kein Problem. Ohnehin bekommt er in Frankreich viel mehr Anerkennung. Dort hat er als ganz junger Schauspieler am Nationaltheater gespielt.

Dort hat er mit den schönsten Frauen Filme gedreht, mit der Bardot zum Beispiel. "Das war ein Geschenk, andere müssen kellnern, um sich ihr Studium zu finanzieren." Dort hat man ihn 2002 zum Ritter der Ehrenlegion gemacht, eine der höchsten Ehren des Landes. "In Frankreich habe ich essen, lieben und denken gelernt", sagt Carrière. Aber er liebe nun mal auch Deutschland. Und das Land sei schließlich groß genug, um dort auch "auf tolle Leute zu treffen".

Für das Denkenlernen in Frankreich hat sich Carrière einen großen Lehrer ausgesucht, den Philosophen Gilles Deleuze. Bei ihm hat er in den politisch aufgewühlten 60er Jahren studiert. Schon als Schüler hatte er ein Jahr auf einem Jesuiteninternat in Frankreich verbracht, dasselbe, auf das Volker Schlöndorff einst gegangen ist. Der Regisseur hat die Schule auch empfohlen, denn er kannte Carrière, seit der mit 15 die Hauptrolle in Schlöndorffs Musil-Film "Der junge Törless" gespielt hatte.

Danach war Carrière daheim ein bisschen rebellisch. "Hab' mir halt die Haare wachsen lassen", sagt er und lächelt dieses Schelmenlächeln, dem man ansieht, dass er es für unwiderstehlich hält. Schlöndorff jedenfalls fand, das mit dem Internat sei eine gute Idee. Und so sprach Carrière ziemlich gut Französisch, als er sich für eine Uni entscheiden musste. Weil ihm Lübeck, wo er mit den Eltern lebte, eh zu eng geworden war, ging er nach Paris. Und studierte bei Deleuze Philosophie. In seiner Hamburger Wohnung stehen im Flur allerhand Sprüche an den Wänden, von irgendwem hingekritzelt wie in ein Gästebuch. "Frag doch Mathieu, denn der ist Philosoph", steht da unter anderem. Unterschrieben von Karl Lagerfeld.

Das Studium bei Deleuze sei unheimlich anregend gewesen, sagt Carrière. "Kafka, Kleist, die Kriegsmaschine, Schriftsteller als Nomaden." Und dann erzählt er, dass er selbst auch Nomade sei, ein Unbehauster. Er hat Wohnsitze in Hamburg, Venedig, Paris, pendelt zwischen den Städten. "An jedem Ort bin ich anders", sagt er. Das sei, als tauche er immer in ein neues Reagenzglas und reagiere auf die Substanzen darin. Dass so ein Leben anstrengend ist, auch psychisch, weist er von sich. Er sagt nicht gern, was man von ihm erwartet. Anstrengend sei nur die Fliegerei. "Da löse ich Sudokus", sagt Carrière, "darin bin ich richtig gut." Und dann lächelt er wieder dieses Verführerlächeln. Vielleicht, um das Bild von ihm und dem Kreuzworträtselheft wegzuwischen. Vielleicht auch, weil ihn die Vorstellung selbst amüsiert.

In seiner Pariser Studentenzeit hat Carrière ein Buch über Kleist geschrieben, von dem der Intendant der Ruhrfestspiele sagt, es sei das beste, das er kenne. Darum hat Frank Hoffmann ihn jetzt eingeladen, bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen in einer Inszenierung des selten gespielten Kleist-Fragments "Robert Guiskard" mitzuwirken. Carrière hat sogar ein paar Szenen geschrieben, an denen Hoffmann weitergearbeitet hat. "Mathieu und ich haben eine sehr humorvolle Art, uns auseinanderzusetzen", sagt der Luxemburger Regisseur, "er ist für ein Ensemble sehr belebend. Und ich habe selten einen Künstler kennengelernt, der so dankbar ist. Für Mathieu ist die Schauspielerei keine Last, er ist dankbar, dass er das tun darf."

Er selbst sagt, dass er mit diesem Beruf oft gehadert hat. Doch bevor man Verständnis dafür äußern kann, schwenkt er wieder um, findet, dass das nun mal dazugehöre. "Jemand, der sich nicht für einen schlechten Schauspieler hält, kann kein guter sein", sagt er dann. Vielleicht fremdeln die Deutschen auch deswegen mit ihm, weil er so schwer zu fassen ist, die Sprunghaftigkeit pflegt. Nicht nur das Krawallige, auch das Unstete macht Carrière suspekt. Er sagt, er folge immer nur der Neugier. Darum habe er auch bei der Telenovela "Anna und die Liebe" mitgespielt. Hierzulande aber mag man es nicht, wenn einer sein Talent vergeudet. Nur um eine Erfahrung zu machen. Carrière hat auch ein Buch über diese Erfahrung geschrieben. "Im Innern der Seifenblase" soll es heißen. Der Titel ist fast so schön, wie der seines Kleistbuchs: "Für eine Literatur des Krieges, Kleist". Komma Kleist – das verrät doch Feingefühl. Gut möglich, dass hinter dem Kreuzigungs-, Tanzshow- und Telenovela-Carrière noch ein ganz anderer zu entdecken wäre. Er hält ihn gut versteckt.

(RP)
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