"Kopf einziehen – bald ist es vorbei!"

Hurrikan Irene ist am Wochenende über die US-Ostküste hinweggefegt. In New York blieb die befürchtete Katastrophe zwar aus. In den betroffenen Küstenstaaten aber forderte Irene mindestens 18 Tote. Fast 10 000 Flüge wurden gestrichen, mehr als vier Millionen Haushalte waren zeitweise ohne Strom.

New York Die Stadt hat aufgeatmet, irgendwann am Sonntagmorgen. Um acht Uhr stand der Gezeitenpegel auf dem Höchststand. Die Sorge war, dass Hurrikan Irene noch mehr Wasser in den Hudson und den East River drücken würde – und damit in die Betonschluchten Manhattans. Am Ende kommt es doch nicht so schlimm. "Nichts, nur großer Rummel", sagt der Schriftsteller James Trager, als er dem TV-Sender CNN ein Interview gibt. Das Worst-Case-Szenario ist nicht eingetreten, jene gefährliche "Wand aus Wasser", vor der sogar die sonst zurückhaltende "New York Times" gewarnt hatte, sie baute sich nicht auf.

Tatsächlich steht in ein paar Straßen in Ufernähe knietief trübe Brühe, aber das ist nicht die Jahrhundertflut, die Experten prognostiziert hatten. Auch aus den Wolkenkratzervierteln werden nur geringe Schäden gemeldet. Der Wind war deutlich schwächer als erwartet. Am Ende wird der Hurrikan zu einem Tropensturm herabgestuft, der sich "nur" noch mit einer Geschwindigkeit von 96 km/h bewegte. Die Stadt schrammt an der Katastrophe vorbei.

Aufgrund des Hurrikans Irene waren fast 10 000 Flüge gestrichen worden, die meisten von und nach New York. Um U-Bahn-Waggons aus überschwemmungsgefährdeten Depots zu holen, hatte man sie vorsorglich im Tunnellabyrinth der Subway geparkt. Ab Samstagmittag fuhren im Untergrund keine Züge mehr, zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte der Metropole. 370 000 Einwohner mussten ihre Wohnungen verlassen – es war der erste Evakuierungsbefehl in New Yorks Geschichte – weil die Stadtväter in den tiefer gelegenen Bezirken von Manhattan, Brooklyn und Queens kein Risiko eingehen wollten. Am Sonntagnachmittag wurde die Evakuierungsanordnung aufgehoben. Vorsicht auch in den Staaten Maryland und New Jersey – dort waren zwei Atomkraftwerke vom Netz genommen worden.

In Washington ging es nicht ganz so glimpflich ab. Sonnabend, eine halbe Stunde vor Mitternacht, ist es Zeit für die Bewohner, in den Keller zu gehen. Draußen zerrt der Wind an den Ästen, irgendwas fliegt durch die Luft, es gießt wie aus Kannen, und manchmal flackern die Straßenlaternen, als wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Strom ausfallen würde. Über den Fernsehbildschirm flimmern endlos die bunten Grafikbilder eines langsam nach Norden ziehenden Luftwirbels, rot und orange in der Mitte, gelb und grün an den Rändern. "Suchen Sie Schutz in sicheren Räumen! Weg von den Fenstern!", dröhnt das Mantra der Krisenmanager. Die Luftmatratze ist aufgepumpt, das Transistorradio steht bereit, daneben liegt die Taschenlampe. Halb Washington hat sich in die Keller verkrochen. Da sind die Supermärkte längst leergekauft, keine Batterien mehr, kein Mineralwasser, kein Brot. Nach und nach öffnen Schutzräume, Notquartiere für jene, die sich kein Hotel leisten können und weder Freunde noch Verwandte in der Nähe haben. An der Georgia Avenue, wo mehrheitlich Afroamerikaner wohnen, stehen dutzende Feldbetten in einer alten Turnhalle. "Verschwinde, Irene!", hat draußen jemand an eine Mauer gesprüht. Drinnen hockt Michelle Bradley, 63 Jahre alt und allein lebend, und hat keine Lust auf lange Gespräche. "Kopf einziehen – bald ist es vorbei."

Am Samstagmorgen war der Sturm in der Nähe der Outer Banks, einer Kette schmaler Inselchen vor der Küste North Carolinas, aufs amerikanische Festland geprallt. Für mehr als zwei Millionen Menschen entlang der Atlantikküste war da schon die Evakuierung angeordnet worden. Zwar hatten die Meteorologen Irene schon von der zweiten der fünf Wirbelsturmkategorien auf die erste herabgestuft, doch zugleich betonten sie, dass sich um Himmelswillen niemand in falscher Sicherheit wiegen möge.

"Irene ist allein flächenmäßig ein Riese", warnte Craig Fugate, der Direktor der Katastrophenschutzbehörde FEMA. Als der Hurrikan das Festland erreichte, maß er im Durchmesser fast 850 Kilometer, ungefähr die Strecke von Paris nach Hamburg. Und da er relativ langsam dahinzog, bedeutete es mancherorts 16 Stunden heftigen Dauerregen. Die Folge waren schwere Überschwemmungen, deren Ausmaß zunächst noch niemand absehen konnte. Dazu flächendeckende Stromausfälle, die ärgerliche Folge einer veralteten Infrastruktur. Der aufgeweichte Boden lässt hohe Bäume leicht umstürzen. Sobald ein entwurzelter Riese auf eine der Stromleitungen kracht, die fast alle überirdisch verlaufen, gehen im weiten Umkreis die Lichter aus. Der Pepco-Konzern, der die US-Hauptstadt mit Energie versorgt, kann irgendwann nur noch den Notstand vermelden.

Am Samstagabend saßen noch viertausend Haushalte im Dunkeln, am Sonntagmorgen sind es schon zweihunderttausend, nebenan im Bundesstaat Virginia mehr als eine Million – insgesamt sind mehr als vier Millionen Haushalte betroffen. Mit zwei Wochen müsse man rechnen, ehe das Netz geflickt sei, verkündet die Sprecherin eines Stromlieferanten in Virginia – so routiniert, dass es Proteste hagelt.

Dann die Tragödien. Mindestens 18 Tote hat Irene gefordert, darunter zwei Kinder. In Newport News in Virginia zerschlug ein kippender Baum das Dach eines Billighauses und tötete einen elfjährigen Jungen. In North Carolina starb ein Kind bei einem Autounfall auf einer Kreuzung, an der die Ampeln außer Betrieb waren. Ein Mann erlitt einen Herzinfarkt, als er Fenster mit Sperrholzplatten vernageln wollte. Dagegen die Kontraste, feuchtfröhliche Runden, deren Stimmung irgendwo zwischen Galgenhumor, Leichtsinn und einem trotzigen Nun-erst-recht lag. Eine Kneipe in Alexandria, einer Satellitenstadt bei Washington, lädt zur "Hurricane Party" direkt am Potomac, einem Fluss, auf dem die Wucht Irenes die Wassermassen des Ozeans weit ins Landesinnere drückt.

Präsident Barack Obama sieht in der Zentrale der Katastrophenbehörde FEMA nach dem Rechten, nachdem er seinen Urlaub auf der Atlantikinsel Martha's Vineyard abgebrochen hatte. Rund um die Uhr, auch nachts, lässt er sich unterrichten – das Weiße Haus legt Wert darauf, es alle Welt wissen zu lassen. Irene, lautet die Botschaft, ist nicht Katrina. Deshalb sollte der Flugbetrieb nun schnell wieder anrollen, die Börse an der Wall Street heute öffnen. Als 2005 in New Orleans die Dämme brachen, wirkte Präsident George W. Bush zunächst seltsam unbeteiligt. Sechs Jahre später setzt Obama den Kontrapunkt.

(RP)
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