Jahresrückblick 2011 Die Wut gärt immer noch

Düsseldorf · Es ist ziemlich genau ein Jahr her, da staunte Deutschland über das neu entdeckte Wutbürgertum. Sonst eher biedere Kaufleute, Angestellte, Rentner schimpften lautstark auf Staat und Politik. Von einer neuen Protestkultur, der Geburt einer kritischen Zivilgesellschaft war die Rede. Und jetzt, ein Jahr danach? Die Unzufriedenheit ist nicht eben geringer geworden. Und die Sehnsucht nach Verlässlichkeit ist sogar gewachsen.

Dietrich Wagner, Symbolfigur von Stuttgart 21
6 Bilder

Dietrich Wagner, Symbolfigur von Stuttgart 21

6 Bilder

Ja, auch das prägte 2011: Der Furor der Proteste gegen Stuttgart 21 verursachte zusammen mit dem Super-GAU von Fukushima ein politisches Erdbeben im sonst stramm CDU-regierten Bade-Württemberg. Wer noch einmal ein wenig auf Distanz geht und mit dem Blick des äußeren Beobachters feststellt, dass da tatsächlich ein Grüner Baden-Württemberg regiert, muss sich auch neun Monate danach noch verwundert die Augen reiben.

Auf dem Weg zum Umbruch

Auf dem Höhepunkt der Welle schien es so, als sei die Republik auf dem besten Wege hin zu einem fundamentalen Umbruch. Die Grünen führten die Umfragen an, die Basis der bürgerlichen Parteien stand jetzt mit Protestplakaten bewaffnet auf der Straße oder wandte sich zumindest mit Schaudern ab von der schwarz-gelben Kehrtwenden-Koalition in Berlin. Die Republik, ein Volk von Wutbürgern, auf dem Weg sich die Politik zurückzuerkämpfen, darauf schien es damals hinauszulaufen.

Im November änderte sich das schlagartig. Die Gegner von Stuttgart 21 mussten bei der Volksabstimmung in Baden-Württemberg eine schwere Niederlage einstecken. 58,8 Prozent stimmten gegen sie. Noch nicht einmal in Stuttgart, dem Zentrum des Protests, reichte es für ein Votum gegen den Bau des unterirdischen Bahnhofs.

Besorgnis erregende Stimmung

Stattdessen siegte die bis dahin schweigende Mehrheit. Eine Erkenntnis lautete daraufhin: Wer laut protestiert, mag vielleicht in die Medien kommen, vertritt aber deswegen nicht automatisch eine Mehrheit.

Doch daraus zu schlussfolgern, der 2010 diagnostizierte Unmut in weiten Teilen der Gesellschaft wäre nur ein reichlich blödes Missverständnis gewesen, wäre ein Fehler. Nicht nur weil sich im November immer noch beachtliche anderthalb Millionen Bürger dagegen ausgesprochen haben. Denn auch ohne Stuttgart war das Jahr 2011 reich an Indizien für eine weiterhin Besorgnis erregende Stimmung in Deutschland.

Proteste gab es 2011 wie schon im vorherigen Jahr. Den größten Eindruck hinterließ dabei sicherlich die Occupy-Bewegung. Sie stellte mit großer Beharrlichkeit das geltende Finanz-System in Frage. Und auch Occupy war nicht allein Sache der Jugend. Auch vor den deutschen Banken erhoben Rentner, Besserverdiener, Bürger ihre Stimme. Demonstriert wurde aber auch gegen Olympia 2018, die Elbphilharmonie in Hamburg, Windräder oder Biogaskraftanlagen.

Den Wut-Bürger gibt es nicht

Allein diese Aufzählung zeigt: Den Wutbürger als solchen gibt es nicht. Es hat ihn nie gegeben. Unter seinem Begriff wurden verschiedenste Interessengruppen und Grüppchen zusammengeschmissen. Einer Studie des Göttinger Instituts für Politikforschung zufolge haben die sogenannten Wutbürger lediglich soziale Eigenschaften gemeinsam: Sie sind überwiegend schon gesetzteren Alters (ab 45), haben einen hohen Bildungsabschluss und nagen nicht unbedingt am Hungertuch. Gemeinsame politische Interessen — Fehlanzeige. Der Wutbürger protestiert vielmehr dann, wenn er seine ureigenen Interessen bedroht sieht: Wohlstand, Sicherheit, Geborgenheit.

Angesichts der demographischen Entwicklung darf man mit Fug und Recht davon ausgehen, dass die Gruppe der Älteren auch in den kommenden Jahren auf die Straße gehen wird, wenn ihr etwas nicht passt. Was das konkret sein wird, lässt sich derzeit kaum vorhersagen. Sicher aber ist, dass der Frust über die Zustände in Deutschland tief sitzt. Im Protest der vergangenen Monate artikulierte sich auch ein tiefes Misstrauen gegen die politischen Institutionen im Allgemeinen und die Parteien im Besonderen.

Sehnsucht nach Verlässllichkeit

Da galt und gilt auch im Jahr 2011. Die Sehnsucht nach Orientierung, Verlässlichkeit und Sicherheit, die den Wutbürgern nachgesagt wird, sie ist heute aktueller denn je. In einer Umfrage der ARD vom Dezember gaben knapp 60 Prozent der Befragten zu verstehen, die Regierung habe in der Eurokrise die Übersicht verloren. Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer diagnostiziere in einer Langzeitstudie über das politische Denken in Deutschland ein weit verbreitetes Gefühl, vom politischen Prozess ausgeschlossen zu sein. Viele sind frustriert, fühlen sich machtlos. Die Politik kämpft mit einer tiefen Vertrauenskrise.

Einige interessante Auswirkungen dieser Systemkrise ließen sich im Jahr 2011 unmittelbar beobachten. Etwa im März, als der Rücktritt von Karl-Theodor zu Guttenberg die Deutschen in zwei Lager spaltete. Für die einen war er ein Scharlatan, für die die anderen die Figur, in die sie all ihre Hoffnungen auf eine neue, anständige politisch Kultur setzten. Allein die Tatsache, dass Guttenberg mit seinem (am Ende substanzlosen) Reden von Anstand, Demut und Dienen so vielen aus der Seele sprach, zeigt das Ausmaß der Sehnsüchte.

Der chronische Verdacht

In denselben Kontext gehört der atemberaubende Aufstieg der Piratenpartei. Nach dem Einzug in das Berliner Stadtparlament liegt sie bundesweit in den Umfragen stabil über der Fünfprozenthürde. Der Schlüssel ihres Erfolgs ist dabei ihr Auftreten als Partei jenseits des Establishments. Die Konventionen des gängigen Politik-Betriebes hat sie bislang erfolgreich vermieden. Gerade, weil die Piraten nicht auf jede Frage eine Antwort haben, besitzen sie bei ihren Wählern eine so große Glaubwürdigkeit.

Etablierte Politiker müssen sich hingegen des chronischen Verdachts erwehren, sie würden nur aus taktischen Interessen handeln. Oftmals fühlen sich Bürger nicht ernst genommen und im Unklaren gelassen. Allein der Blick in Online-Kommentare zeigt, dass dieser Eindruck sich insbesondere durch den Umgang mit der Eurokrise verfestigt hat. Wer aber wissen will, wohin am Ende ein Glaubwürdigkeitsverlust beim Wähler führen kann, braucht nur einen Blick auf die Lage der FDP zu werfen. Sie kann tun, was sie will — der Kredit ist aufgebraucht.

(pst)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort