Der große Jahresrückblick Die Nationalmannschaft erfindet sich neu

Düsseldorf (RPO). In der Regel folgt der Kater auf den Rausch. Die deutsche Nationalmannschaft trat im zurückliegenden Jahr jedoch erfolgreich den Beweis an, dass diese Ereignisse auch in umgekehrter Reihenfolge auftreten können. Aufregende zwölf Monate liegen hinter der DFB-Auswahl, die trotz aller Turbulenzen Fußball-Fans weltweit begeisterte.

WM 2010: Die schönsten deutschen Momente
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WM 2010: Die schönsten deutschen Momente

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Das Fußball-Jahr begann für den Deutschen Fußball-Bund bereits im Dezember 2009. Präsident Theo Zwanziger verkündete vollmundig und wie sich später herausstellte auch vorschnell, sich mit Bundestrainer Joachim Löw per Handschlag auf eine Vertragsverlängerung geeinigt zu haben. Die Hoffnung, mit Ruhe ins WM-Jahr zu starten, erfüllte sich jedoch nicht. Im Gegenteil: Löw bestätigte die Verlängerung seines Arbeitspapiers nicht, ließ lediglich ausrichten, weiterhin großes Interesse am Bundestrainer-Job zu haben, konzentrierte sich aber zunächst auf andere Baustellen.

Vertragspoker eskaliert

Nachdem er im Januar Routinier Torsten Frings endgültig ausmusterte und gleichzeitig ankündigte, auf jüngere sowie physisch robustere Spieler zu setzen, kam es im Februar zum Eklat. Die Verhandlungen zwischen dem Bundestrainer und dem DFB — den Handschlag hatte es doch noch nicht gegeben — platzten überraschend und wurden auf die Zeit nach der WM vertagt. Das zuvor so herzliche Verhältnis zwischen Löw und Zwanziger kühlte merklich ab, nachdem vertrauliche Details aus den Gesprächen an die Öffentlichkeit gelangt waren. Eine Vertragsverlängerung erschien trotz anschließender offizieller Versöhnung nun nicht mehr sicher. Spekulationen über mögliche Nachfolger waren die Folge. Keine Spur von Ruhe wenige Monate vor der Weltmeisterschaft in Südafrika — das hatte sich Zwanziger anders vorgestellt.

Mitten in den Burgfrieden platzte das erste Länderspiel der Saison, bei dem diesmal der Trainer der Gäste im Mittelpunkt stand. Der erste Test im WM-Jahr und noch dazu der einzige gegen einen der Hochkaräter im Welt-Fußball verkam zur großen Diego-Maradona-Show. Der Auftritt des vielleicht besten Fußballers aller Zeiten, der die Übungseinheiten der Argentinier stets mit einer dicken Zigarre im Mund verfolgte, gipfelte in einer skurrilen Pressekonferenz, bei der er den jungen Debütanten Thomas Müller nach dem 1:0-Sieg in München nicht erkannte und das Podium erst wieder betrat als der unwürdige Müller verdutzt das Feld räumte. Maradona sollte diesen Müller später in Südafrika noch kennenlernen.

Doch vor dem Turnier, bei dem die deutsche Mannschaft die Fußball-Welt verblüffte, galt es noch etliche Probleme zu überwinden. Etwa im Sturm. Dort hielt Löw an den formschwachen Lukas Podolski und Miroslav Klose fest, obwohl sich die breite Öffentlichkeit für eine Rückkehr des verbannten, aber eben wiedererstarkten Kevin Kuranyi aussprach. Oder in der Abwehr, wo verzweifelt ein passendes Äquivalent zu Außenverteidiger Philipp Lahm gesucht wurde und die Innenverteidigung um Per Mertesacker bedrohlich wackelte.

Ballacks tragisches WM-Aus

Doch alle Personaldiskussionen verblassten im Gegensatz zur tragischen Verletzung von Kapitän Michael Ballack. Ein Aufschrei ging durch die Nation. Kevin-Prince Boateng hatte den Capitano im englischen Pokalfinale rüde von den Beinen geholt und Ballack um seinen WM-Traum gebracht. Das Syndesmoseband, eben jene gerissene Sehne im Sprunggelenk des Leitwolfs, war zuvor wohl nur Ärzten ein Begriff — plötzlich war es in aller Munde und wurde schon einen Monat vor der WM zum Synonym für das wahrscheinlich schwache Abschneiden der Nationalmannschaft in Südafrika.

Das Turnier sollte aus deutscher Sicht zum Triumphzug werden, auch wenn sich der spätere Weltmeister Spanien im Halbfinale als eine Nummer zu groß entpuppte. Deutschlands Fußballer um den neuen Kapitän Philipp Lahm rückten nach Ballacks Verletzung enger zusammen und begeisterten mit ihrem schnellen und attraktiven Spiel. Neben dem raffinierten Spielmacher Mesut Özil, dem nimmermüden WM-Torschützenkönig Müller und dem nervenstarken Torhüter Manuel Neuer profilierte sich vor allem Bastian Schweinsteiger auf der Ballack-Position. Ausgestattet mit noch mehr Verantwortung blühte der 26-Jährige in der Mittelfeld-Zentrale förmlich auf und katapultierte sich auch nach grandiosen Auftritten mit dem FC Bayern in der Champions League in die Weltspitze.

Eine WM wie im Rausch

Pünktlich zum Angriffswirbel gegen Australien fanden auch Podolski und Klose ihren Torriecher wieder und trafen jeweils beim 4:0-Auftaktsieg, Müller und Cacu erledigten den Rest. Doch noch wichtiger war die Art und Weise wie Deutschland spielte. Leichtfüßig, direkt, technisch ansehnlich — diese Attribute standen für den neuen deutschen Stil und degradierten die viel zitierten deutschen Tugenden zur Randnotiz. Der 0:1-Ausrutscher im zweiten Gruppenspiel gegen Serbien wurde Löws Mannschaft durch ein 1:0 über den späteren Viertelfinalisten Ghana nicht zum Verhängnis. Die Gruppenphase war überstanden, die jüngste deutsche WM-Mannschaft aller Zeiten konnte nun befreit aufspielen.

Der Klassiker gegen England im Achtelfinale wurde zum Fußball-Feiertag aus deutscher Sicht. Klose, Podolski und zwei Mal Müller trafen beim 4:1 über den Erzrivalen und demonstrierten dabei weitestgehend Fußball aus der Feinkost-Abteilung. Herrliche Kombinationen, packende Zweikämpfe und ein Wembley-Tor der Briten durch Frank Lampard, dem die Anerkennung verweigert wurde, waren die Mixtur zu einem unvergesslichen WM-Auftritt der deutschen Mannschaft. Wer glaubte, diese Leistung der DFB-Auswahl sei nicht zu toppen, der wurde im Viertelfinale gegen Maradonas Argentinier eines Besseren belehrt.

Bereits nach wenigen Minuten stellte Müller mit seinem Kopfballtreffer die Weichen auf Sieg und brachte sich bei Maradona nachhaltig in Erinnerung. Zwei Treffer von Klose und das erste Länderspiel-Tor in der langen Nationalmannschaftskarriere von Arne Friedrich machten die Demütigung für die Südamerikaner komplett. 4:0 hieß es am Ende gegen Weltfußballer Lionel Messi und dessen Gefolgschaft. Die Fußball-Welt verneigte sich vor diesem wie entfesselt aufspielenden Team.

Löws Imagewechsel

Daran änderte auch das 0:1 im Halbfinale gegen Spanien nichts. Der deutsche Fußball hatte sich längst einen Namen gemacht. Im Spiel um Platz drei unterstrich Deutschland noch einmal seine neue Offensivkraft und gewann mit dem zweiten Anzug 3:2. Löw hatte sich auch ohne den Weltmeister-Titel in beste Verhandlungsposition gebracht. Waren die Erwartungshaltung an Löw und dessen Team kurz vor der WM so gering wie selten zuvor, war der Glaube an die Fähigkeiten des Trainers indes nie so hoch wie kurz nach dem Turnier.

Die Vertragsverlängerung von Löw und dessen Stab inklusive des ständig kritisierten Managers Oliver Bierhoff war die logische Konsequenz. Die Mannschaft knüpfte an die Leistungen der WM an und startete mit vier Siegen in die EM-Qualifikation, zudem rückten weitere hoffnungsvolle Talente wie Dortmunds Mario Götze in den Fokus der Nationalmannschaft. Das Jahr 2010, die Geburtstunde des neuen deutschen Fußballs, endet harmonisch und verheißungsvoll zugleich, einzig die Personalie Ballack, dessen Rückkehr nach einer erneuten Verletzung unsicher scheint, birgt in naher Zukunft noch Zündstoff. Wer hätte das gedacht?

Was uns im Jahr 2010 bewegte

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