Der große Jahresrückblick Borussia: Erst sorgenfrei, nun am Ende aller Hoffnung?

Möchengladbach (RP). Prolog: Der Fußball hat, je nach Betrachtungsweise, eine angenehme oder unangenehme Angewohnheit. Er teilt ein Jahr in zwei Hälften. Der erste Teil ist der letzte der einen Saison, der zweite der erste der nächsten. Daraus resultiert, dass die Bilanz eines Jahres schizophren ausfallen kann: zwischen schön und traurig, zwischen Gut und Böse.

Gladbach - Hamburg: Einzelkritik
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Borussias Ansinnen für das gesamte Jahr war es, jenseits von Gut und Böse zu bleiben, vor allem natürlich von Böse, was wiederum als gut gewertet wird im Borussia-Park. Die Mannschaft soll sich finden, soll sich entwickeln, soll die Basis für einen bessere Zukunft werden. Das erste Halbjahr 2010 war ein Anlass zur allgemeinen Zufriedenheit.

Zwischen Platz zwölf und 14 tummelten sich die Borussen, um am Ende den zwölften Rang zu belegen. Zwar war die Tendenz nach der sehr ertragreichen Hinrunde (21 Punkte) leicht fallend (18), doch verabschiedeten sich die Gladbacher frohen Mutes in die Sommerpause.

Am Ende des Jahres indes ist von der Unbeschwertheit des Sommers nicht mehr viel zu spüren. Borussia hat sich nicht entwickelt, es hat einen schlimmen Rückschritt gegeben: Statt erneuter Sorgenfreiheit hat der dritte Abstieg bedrückend viel Gestalt angenommen, weil daheim viel zu wenig Punkte geholt und auf dem Rasen viel zu viele Fehler gemacht wurden.

Episode 1:

Jenseits von Gut und Böse "Wir haben, über 90 Minuten gesehen, unser bestes Saisonspiel gemacht", hatte Mönchengladbachs Trainer nach dem 2:0-Sieg gegen Eintracht Frankfurt gesagt und gemeint: defensiv kompakt und vorn bei Kontern gefährlich, ganz so, wie er sich die Borussia seiner Prägung vorstellt. Spektakulär-unspektakulär soll sie spielen, und ist damit ein Spiegel des Wesens ihres Trainers: Frontzeck hat keine Attitüde, er bleibt (äußerlich) stets gelassen, ist ein akribischer Arbeiter, der mit "kompakt" nicht nur verteidigen, sondern die Basis für ein tor-orientiertes Spiel der gesamten Mannschaft meint.

Nach dem Sieg gegen Frankfurt war der Abstieg nur noch ein Gespinst theoretischer Rechenschieberei. 37 Punkte hatten die Gladbacher nach dem 30. Saisonspiel beisammen, und angesichts der Gesamtlage in der Liga fiel die bei Siegen übliche Humba vor der Nordkurve emotionaler aus als sonst. Stürmer Raúl Bobadilla brüllte ins Mikrophon, seine Kollegen tanzten wild umher. Vier Spiele vor Ultimo gesichert — damit war das Ziel, "eine Saison ohne große Sorgen" zu spielen, das Frontzeck und Sportdirektor Max Eberl ausgegeben hatten, zwar nicht faktisch, aber nach menschlichem Ermessen erreicht: Mönchengladbach hatte Grund zu feiern.

"Vor einem Jahr haben zu diesem Zeitpunkt alle geweint, jetzt freuen sie sich", erinnerte später Dante, der Abwehrchef, an die Last-Minute-Rettung der Vorsaison. Und verkündete, dass er bald zum zweiten Mal Vater werde. Ein wenig symbolisch durfte diese Nachricht an diesem Abend durchaus gedeutet werden, denn es wächst etwas heran in Mönchengladbach.

Dante und Marco Reus hatten die Tore erzielt gegen Frankfurt, und auch das passte. Der Verteidiger und der Mittelfeldspieler sind zwei der Gesichter, die für den zarten Aufschwung stehen, den die Borussen in dieser Saison erlebten. Dante, weil er zum Anführer gereift ist und mit seinem Innenverteidiger-Kollegen Roel Brouwers "eine überragende Saison" spielte, wie Frontzeck lobte. Und Reus, weil er der Senkrechtstarter war am Niederrhein, der in seiner ersten Bundesliga-Saison acht Tore erzielte.

Doch der beste Neuzugang, da war sich Sportdirektor Max Eberl am Ende der Saison sicher, war Trainer Michael Frontzeck. Bei Absteiger Bielefeld war der gebürtige Mönchengladbacher am vorletzten Spieltag der Vorsaison entlassen worden, nun sollte er in Gladbach Aufbauarbeit leisten. Nicht wenige trauten es dem 46-Jährigen nicht zu, monierten, er sei ein Abstiegstrainer. Doch hatten schon seine Teams in Aachen und Bielefeld kompakt gespielt, indes ohne die gehobene individuelle Qualität, die er nun bei Borussia zur Verfügung hatte. Frontzeck arbeitet mit Ruhe und Bedacht - und hatte den nötigen Erfolg. "Er hat aus der Mannschaft ein funktionierendes Team geformt", resümierte Präsident Rolf Königs im Sommer 2010.

Nur einmal kamen in der Rückrunde noch Zweifel auf: als es nacheinander ein 0:3 in Dortmund und ein 0:4 gegen Wolfsburg gab. Doch nach den Heimsiegen gegen den Hamburger SV (1:0) und eben Frankfurt war klar: Borussia durfte frühzeitig für das dritte Jahr Bundesliga in Folge planen. "Es ist wichtig, dass wir gut durch die Saison gekommen sind. Wir werden im nächsten Jahr keine irrwitzigen Ziele haben, sondern wollen uns weiter stabilisieren und entwickeln", sagte Michael Frontzeck. "Wir haben jetzt ein gutes Fundament, auf das wir aufbauen können", resümierte Max Eberl, die erste Jahreshälfte, in der Borussia Jenseits von Gut und Böse recht glücklich war.

Episode 2: Jenseits der Hoffnung?

Vielleicht war das, was kurz nach dem Trainingsauftakt im Sommer passierte ein Hinweis darauf, dass es nicht wirklich gut laufen würde in diesem ersten Teil der neue Saison. Igor de Camargo, den sich die Gladbacher für rund vier Millionen Euro geleistet hatten als neuen Impulsgeber für die Offensive, verletzte sich bei einem Zweikampf mit Dante. Dreieinhalb Monate sollte es dauern, bis der Mann, der nun die Nummer 10 trägt bei Borussia, und damit auch ein Stück Verwantwortung, die Netzers früheres Markenzeichen in Mönchengladbach überstreifte, zurückkehren sollte.

Da auch Raúl Bobadilla, nun mit der "9" auf dem Rücken der nominelle Chefangreifer, zunächst ausfiel, war Frontzecks geplanter Erstangriff dahin, und gleich musste experimentiert werden. Doch war dies nur ein bitter-süsser Vorgeschmack auf das, was über die Borussen hereinbrechen sollte: Nach und nach fielen Spieler aus, die Michael Frontzeck für sich als "Achsenspieler" definiert hatte: Dante verletzte sich am vierten Spieltag, am sechsten sah Roel Brouwers rot (und war dann malad), später auch Juan Arango. Da zudem Jean-Sébastien Jaurès, Tony Jantschke und Bernhard Janeczek dauerhaft ausfielen, kam Borussia jene Stärke abhanden, die sie in der Saison zuvor ausgemacht hatte: Die Kompaktheit als Resultat funktionierender Kollektivarbeit.

Allerdings lief die Saison schon seltsam, als bis auf de Camargo alle geplanten "Chefs" noch dabei waren. Erst gab es ein 1:1 gegen den Aufsteiger 1. FC Nürnberg, dann ein wundervolles 6:3 in Leverkusen. "Das war nahezu perfekt", befand Michael Frontzeck hernach. Es wurde fröhlich und effektiv gekontert.

Doch schon in der Bayarena war, bei genauem Hinsehen, zu bemerken, wo Borussias Problem liegt: Das gut organisierte Spiel "gegen den Ball", wie Frontzeck zu sagen pflegt, wirkte fehlerhaft — und Torhüter Logan Bailly unsicher. Die Freude indes übertünchte an diesem Tag diese Problematik, auch wenn Michael Frontzeck dies nicht entgangen sein dürfte.

Was folgte war ein Drama in neun Akten: Borussia verlor zunächst 0:4 gegen Frankfurt, leistete sich dann ein höchst peinliches 0:7 in Stuttgart (wo sie zudem Dante verlor), ein bitteres 1:2 beim FC St. Pauli (nach einer 1:0-Führung), Unentschieden bei Schalke 04 (Raúl glich für Schalke drei Minuten vor Schluss aus) und gegen Wolfsburg, ein 2:3 in Hoffenheim (nach einer 1:0-Halbzeitführung) und ein 1:4 gegen Bremen. Sechs Spiele ohne Sieg - "das haben wir uns natürlich anders vorgestellt", gestand Sportdirektor Max Eberl nicht nur an diesem Punkt der Saison. 21 Gegentore hatte es bis dahin gegeben, drei im Schnitt.

Als es dann einen großen Pokalabend gab, der einen erneuten Sieg gegen Bayer Leverkusen (im Elfmeterschießen) brachte, schien es, als habe Borussia den gordischen Knoten zerschlagen, der sie in der Liga hemmte. Es gab alles, was Moral stärken und Selbstvertrauen aufbauen kann: Den Sieg natürlich, einen 0:1-Rückstand, der die Gladbacher aufholten in der Verlängerung, das Elfmeterschießen, in dessen Verlauf alle fünf Schützen den Ball ins Tor traten. Vor dem Spiel hatte Michael Frontzeck entschieden, dass Bailly nicht mehr die Nummer 1 ist, statt des Belgiers hütete gegen Bayer Christofer Heimeroth erstmals wieder das Tor und avancierte sogleich zum Elfmeterhelden.

In einem kurzen Trainingslager wollte Frontzeck all das Positive dieses netten Mittwochserlebnises konservieren — doch es gab ein 0:3 beim 1. FC Kaiserslautern. Danach musste Max Eberl nicht zum ersten Mal auf die Trainerfrage und den "bekannten Mechanismen" im Fußball, antworten. "Wir haben kein Trainerproblem, wir wollen alle gemeinsam aus der Misere rauskommen", sagte Eberl.

Was folgte war ein 3:3 gegen den FC Bayern und ein Spiel das beide Gesichter des Teams offenbarte: In der ersten Halbzeit stand Frontzecks Ensemble der bayerischen Ballstafetten hilflos gegenüber, dann fand sie nach der Pause über den Kampf ins Spiel, drehte es — um am Ende doch nur einen Punkt in Helden zu halten. Nach dem Vergleich mit dem Rivalen aus der alten Zeit, den 70ern, folgte der ewige Rivale, der Erzfeind, der 1. FC Köln.

Was für ein Tag, was für ein Ergebnis: 4:0 siegten die Borussen, und wieder fühlte es sich an wie der Ausbruch aus der Melancholie. Zumal, als die Gladbacher 2:1 gegen Mainz 05 führten und der erste Heimsieg der Saison nur 20 Minuten entfernt war. Doch zwei lange Bälle und zwei Tore des eingewechselten Allagui ließen Gäste-Trainer Thomas Tuchel "den Geist der uns auszeichnet über 90 Minuten" sehen und Michael Frontzeck ratlos zurück. Wieder hatte sein Team phasenweise ordentlich gespielt, wieder ohne Erfolg.

Das setzte sich in Dortmund fort: Eine Halbzeit lang stand Borussia sehr kompakt, nur selten kam der torhungrige Angriff des Tabellenführers zum Zuge. Und das, obwohl mit Bamba Anderson und dem vom Amateuer-Team zurückgeholte (und zuvor ausgemusterte) Jan-Ingwer Callsen-Bracker die Ersatz-Innenverteidigung der Ersatzinnenverteidigung spielte (und dies recht ordentlich). Dann aber glich Neven Subotic nach einer Ecke mit dem Pausenpfiff aus und nach der Pause ging die Geschichte den erwarteten Gang: Borussia war in der Defensive löchrig, weil von vorn nach hinten nicht richtig durchgedeckt wurde. 1:2, 1:3, 1:4, einmal mehr fiel die Niederlage, die das 40. Gegentor der Saison brachte, deftig aus.

Es folgten zwei weitere Niederlagen gegen Hannover (1:2) und in Freiburg (0:3) und immer wieder die Frage: Darf Michael Frontzeck weiter Trainer bleiben? Vor dem letzten Spiel gegen den Hamburger SV stellte Sportdirektor Max Eberl klar, dass Borussia den Abstiegskampf in der Rückrunde mit Frontzeck angehen wird. "Wir wissen, was unsere Probleme sind. Wir führen Gespräche mit neuen Spielern mit Michael Frontzeck, damit ist klar, wie wir planen."

Das bestätigten Bonhof und Eberl auch nach der 1:2-Niederlage. Borussia geht mit Frontzeck in die Rückrunde. Die Mission Klassenverbleib scheint, angesichts der Ausgangslage, einigermaßen hoffnungslos. "Aber egal wie viele Punkte wir brauchen, wir holen sie", gibt sich Frontzeck kämpferisch, auch wenn sich Borussia gefühlt jenseits der Hoffnung befindet.

Epilog

Der Trainer ist froh, dass der zweite Teil des Jahres vorbei ist: Es war in weiten Teilen einen Horrorshow, eine Unterbrechung könnte für neue Ordnung in den Köpfen seiner Spieler sorgen und die wachsende Aufgeregtheit rings um Borussia etwas beruhigen. Misserfolg überschattet im Tagesgeschäft alles, weswegen die schöne erste Jahreshälfte längst verblasst ist und Lichtjahre her zu sein scheint. Der Fußall vergisst eben schnell. Eine, so wird es nicht nur Frontzeck empfinden, durchaus unangenehme Angewohnheit.

(RP)
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