Nach Großrazzia in „Reichsbürger“-Szene Das Märchen von der „BRD-Lüge“

Düsseldorf · Die BRD existiert nicht – das klingt absurd. Doch die Anhänger dieser Verschwörungstheorie ziehen aus ihr Schlussfolgerungen, die sie bisweilen mit Gewalt durchzusetzen versuchen. Nach der Großrazzia stellt sich erneut die Frage: Welchen Ideen hängen „Reichsbürger“ an? Und wie gefährlich sind sie?

Bis vor einigen Jahren galten sogenannte Reichsbürger noch als harmlose Spinner, die sich zu Königen von Fantasiereichen krönen ließen oder sich zum Reichskanzler ernannten. Sie waren dafür bekannt, ihre Ausweisdokumente abzugeben, sich zu weigern, Steuern und Bußgelder zu bezahlen. Doch auch die neuesten Entwicklungen zeigen: Man darf diese Gruppierungen nicht verharmlosen.

Am 7. Dezember 2022 hat die Bundesanwaltschaft 25 Menschen aus der sogenannten Reichsbürgerszene festnehmen lassen. Rund 3000 Polizeibeamte waren in elf Bundesländern bei einer Großrazzia im Einsatz. Die terroristische Vereinigung habe die staatliche Ordnung in Deutschland stürzen und durch eine eigene ersetzen wollen, die in Grundzügen schon ausgearbeitet sei, hieß es. Dafür hätte sie auch Tote in Kauf genommen.

Im Jahr 2016 erschoss Wolfgang P. einen Polizisten, als ein Sondereinsatzkommando sein Haus stürmte. P. war als Reichsbürger und Waffenliebhaber bekannt. Die Tat wurde in den Medien als Polizistenmord von Georgensmünd bekannt. Im selben Jahr endete eine Zwangsräumung auf dem Grundstück von Adrian U. in Reuden, Sachsen-Anhalt, in einer Schießerei. U., ein ehemaliger Mr. Germany, hatte wenige Jahre zuvor sein Grundstück zum eigenständigen „Staat Ur“ erklärt. Die Reichsbürgerbewegung war also bereits ab diesem Zeitpunkt von öffentlichem Interesse und damit auch die Frage, wie viel Gewaltpotenzial sie birgt. 2019 registrierte der Kostenpflichtiger Inhalt Verfassungsschutz 589 extremistische Straftaten, die der Reichsbürger-Szene zugeordnet wurden. In NRW wächst die Szene weiter. Doch an was genau glauben diese Menschen eigentlich?

Was wird behauptet?

Der Kern dieser Verschwörungstheorie besagt, dass Deutschland kein souveräner Staat sei, sondern eine Firma, die die Reichsbürger „BRD GmbH“ nennen. Diese sei von den Alliierten, die Deutschland in Wirklichkeit weiter besetzt hielten, nach Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet worden. Oft umfasst die Erzählung auch Motive des Antisemitismus. So wird eine angebliche zionistische Weltverschwörung für die fehlenden Souveränität Deutschlands verantwortlich gemacht. Bisweilen gehen Reichsbürger noch einen Schritt weiter und behaupten, dass das Deutsche Reich weiterhin bestehe. Als Konsequenz erkennen sie das Rechtssystem der Bundesrepublik nicht an und sprechen den gewählten Repräsentanten, wie etwa der Bundesregierung, die Legitimation ab. Sie betrachten sich als außerhalb der Rechtsordnung stehend.

Woher kommt der Humbug?

Reichsbürger, wie etwa der Rentner Norbert Schittke, der sich zum „Reichskanzler“ ernannte, werden erst seit Anfang des Jahrtausends von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen. Doch die Ursprünge dieser Erzählung sind weitaus älter. Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begannen einige nationalistische Gruppierungen mit ihren Bestrebungen, ein „Deutsches Reich in den Grenzen von 1937“ wiederherzustellen. Allen voran die „Sozialistische Reichspartei“, die zwar nicht die Existenz der Bundesrepublik als Rechtsstaat infrage stellte, den neuen Staat allerdings ablehnte. Die Amadeu-Antonio-Stiftung, die sich für eine Stärkung der Zivilgesellschaft gegen Rechtsextremismus einsetzt und die Reichsbürgerszene seit Jahren beobachtet, sieht hier die Ursprünge für das, was aus der Erzählung einmal werden sollte.

1975 berief dann der Rechtsextremist Manfred Roeder den „Reichstag zu Flensburg“ ein und ließ sich von den Anwesenden zum „Sprecher der Reichsregierung“ wählen. Roeder, verurteilt wegen Volksverhetzung und Holocaust-Leugnung, hatte Kontakt mit dem verurteilten Kriegsverbrecher und Hitler-Gefolgsmann Karl Dönitz gehabt. Dönitz, Großadmiral der Kriegsmarine, war nach Willen Hitlers als „Reichspräsident“ für wenige Tage das letzte Staatsoberhaupt des Dritten Reichs. Roeder fragte ihn drei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ob Dönitz denn weiterhin Reichspräsident sei. Als Dönitz verneinte, schloss Roeder daraus, das „Reich“ sei nun führungslos. Bis heute haben sich viele verschiedene Gruppierungen gegründet. Eine davon ist die „Kommissarische Reichsregierung“, auf die Behörden erstmals 1985 aufmerksam wurden. Sie entstand auf Initiative des DDR-Bürgers Wolfgang Ebel, Eisenbahner aus Ostberlin. Ebel berief sich darauf, die Alliierten hätten ihm diesen Auftrag erteilt. „Ebel war auch dafür verantwortlich, dass es erste Webseiten gab, auf denen Dokumente hinterlegt waren, mit denen die Praxis begann, an Behörden zu schreiben“, sagt Benjamin Winkler von der Amadeu-Antonio-Stiftung.

Wie verbreitet ist der Humbug?

Rund 19.000 Menschen leben in Deutschland, die der Verfassungsschutz der Reichsbürgerszene und ihren diversen Gruppierungen zuordnet. Etwa 950 davon werden als Rechtsextremisten eingeordnet (Stand: 2019). „Nicht alle Reichsbürger sind rechtsextrem, aber der Rechtsextremismus ist nie ganz aus dem Milieu verschwunden“, sagt Benjamin Winkler. Zudem ist die Szene männlich dominiert, mit einem Frauenanteil von nur 26 Prozent. Verschiedene Gruppierungen existieren parallel, so etwa der „Staatenbund Deutsches Reich“, die „Verfassungsgebende Versammlung“ oder die „Kommissarische Reichsregierung“. Gegen die Gruppierung „Geeinte deutsche Völker und Stämme“ wurde im März 2020 ein Vereinsverbot ausgesprochen. Damit wurde erstmals eine Reichsbürgervereinigung auf Bundesebene verboten. Peter Frühwald, der 2012 den Scheinstaat „Republik Freies Deutschland“ ausrief, machte die „Selbstverwaltung“ zum Geschäftsmodell und verkauft Seminare zu diesem Thema. Zwar ist die Reichsbürgerszene lediglich auf Deutschland begrenzt, aber „Selbstverwalter“ gibt es auch in anderen Ländern. So existiert in Österreich die Gruppierung „Staatenbund Österreich“, die ebenfalls den Staat ablehnt; in Kanada und den USA hat die sogenannte Freeman Bewegung ihren Ursprung. Beide haben mit den Ursprüngen der Reichsbürger und Selbstverwalter in Deutschland nichts zu tun, weisen aber strukturelle Parallelen auf.

Was ist dran?

Wer auf Webseiten wie „Selbstverwaltung Deutschland“ (Peter Frühwald) oder ominösen Blogs landet mit Titeln wie „Die BRD-Lüge“, stößt auf verschiedene „Beweise“. So wird etwa immer der Handelsregistereintrag einer „Bundesrepublik Deutschland – Finanzagentur GmbH“ angeführt, die offenbar auch den Ausdruck „Deutschland GmbH“ inspiriert hat. Es handelt sich um ein Unternehmen, das vollständig im Besitz des Bundes ist, als ausführender Dienstleister für das Finanzministerium tätig ist und das den Auftrag hat, sich um Kredite und Schulden der Bundesrepublik zu kümmern. Diese und weitere Halbwahrheiten kursieren in Blogs und Foren im Netz. Viele Argumente sind Zitate, die aus dem Kontext gerissen wurden oder basieren auf einem falschen Verständnis davon, was einen souveränen Staat ausmacht.

Was sagen die Experten?

Als ein „Hinweis“ für die „BRD GmbH“-Erzählung ist die Bezeichnung „Personalausweis“. Personal, das seien Angestellte einer Firma, lautet die Schlussfolgerung. Dabei hat das Wort aus sprachwissenschaftlicher Perspektive eine andere Bedeutung. Denn der Ursprung des Wortes „Personal“ geht auf den lateinischen Ausdruck „personalis“ zurück, das „persönlich“ bedeutet. So habe etwa die „Personalunion“ nichts mit Bediensteten zu tun, sondern bedeute, dass eine Person zeitgleich zwei Ämter ausübe, sagt Wilhelm Achelpöhler, Fachanwalt für Verwaltungsrecht aus Münster. Außerdem ist die Bezeichnung älter als die Bundesrepublik: „Einen Personalausweis als Ausweisdokument gab es bereits während des Deutschen Reichs“, sagt Achelpöhler.

Ein weiteres Argument für Reichsbürger und Selbstverwalter für die angeblich fehlende Souveränität Deutschlands ist, dass es keine Verfassung gebe. Ein Grundgesetz ja, aber keine rechtmäßige Verfassung, wie etwa die der USA, so lautet die Behauptung. „Das Grundgesetz war von Anfang an eine vollständige Verfassung“, sagt Wilhelm Achelpöhler. Denn per Definition regelt eine Verfassung die Grundfragen des staatlichen Herrschaftssystems. „Das tut das Grundgesetz“. Eigentlich sollte das Grundgesetz nur bis zur Wiedervereinigung die deutsche Verfassung sein. In der Präambel hieß es ursprünglich, dass das Grundgesetz „dem staatlichen Leben für die Übergangszeit eine neue Ordnung“ gebe. Mit dem Einigungsvertrag mit der DDR wurden alle Hinweise auf einen provisorischen Charakter gestrichen. Doch das Grundgesetz hat von Anfang an mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass es die Verfassung der Bundesrepublik ist. In Artikel 5, Absatz 3 etwa: „Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“ „Die Beibehaltung des Namens ist heute ein Bekenntnis zur politischen Kontinuität der Bundesregierung“, sagt Achelpöhler. „In Israel oder Großbritannien gibt nicht einmal eine förmliche Verfassung. Aber niemand zweifelt wohl daran, dass diese Staaten souverän sind.“

„Das Deutsche Reich existiert fort, besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit […].“ So lautet eine Passage aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Doch auch, wenn Reichbürger sich mit diesem Satz offiziell bestätigt sehen, ist auch dieser angebliche Beweis ein aus dem Zusammenhang gerissenes, unvollständiges Zitat. Denn weiter heißt es, das Reich sei „allerdings als Gesamtstaat mangels Organisation, insbesondere mangels institutionalisierter Organe selbst nicht handlungsfähig.“ Das Urteil selbst bezog sich auf den Grundlagenvertrag zwischen BRD und DDR, der 1973 in Kraft trat. „Gemeint war: Die Bundesrepublik Deutschland kann alleine keine endgültigen Regelungen treffen. Das ist nur durch ein wiedervereinigtes Deutschland möglich“, sagt Achelpöhler. Und nur wenige Sätze später heißt in dem Urteil: „Die Bundesrepublik Deutschland ist also nicht ‚Rechtsnachfolger‘ des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat ‚Deutsches Reich‘.“ Mit der Errichtung der Bundesrepublik wurde kein neuer westdeutscher Staat gegründet, sondern ein Teil Deutschlands neu organisiert. „Vor der Wiedervereinigung sah sich die BRD nur ‚teilidentisch‘ mit dem Deutschen Reich, da sie beschränkt war auf einen Teil des Territoriums und einen Teil des Volkes. Die Bundesrepublik beschränkte staatsrechtlich ihre Hoheitsgewalt, fühlte sich aber verantwortlich für das ganze deutsche Volk“, sagt Achelpöhler. „Bewohner der DDR waren aus Sicht der Bundesrepublik ebenso deutsche Staatsbürger.“ Mit dem Einigungsvertrag sei dann klargestellt worden, dass das deutsche Volk in der Bundesrepublik vereint ist und Deutschland endgültige neue Grenzen habe.

Die Idee, ein von der Bundesrepublik Deutschland losgelöstes Deutsches Reich existiere, sei absurd, sagt Achelpöhler: „Ein Staat ist durch drei Merkmale gekennzeichnet: ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt.“ Nichts davon könne für ein virtuelles Deutsches Reich gelten.

(Dieser Text ist das erste Mal am 09.09.2020 erschienen und aktualisiert worden)

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