Serie „Humbug“ War der Putschversuch in der Türkei inszeniert?

Ankara/Istanbul/Marmaris · Der gescheiterte Putsch in der Türkei ist vier Jahre her. Die Frage, ob der Umsturzversuch eine Inszenierung war, wird heute oft gestellt. Doch die Theorie, der türkische Machthaber Erdogan habe in Wahrheit den Aufstand geplant, ist Humbug.

"Wachen für die Demokratie" - Erdogan-Anhänger gehen auf die Straßen
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"Wachen für die Demokratie" - Erdogan-Anhänger gehen auf die Straßen

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Foto: afp, OZN

Die Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 war ein einschneidendes Ereignis in der modernen Geschichte der Türkei. Zwei Theorien ranken sich um dieses blutige Ereignis. Nach der ersten haben Gegner des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan die Regierung stürzen wollen. Nach der zweiten hat das amtierende Staatsoberhaupt den Putsch selbst inszeniert, um gegen seine innertürkischen Rivalen vorzugehen. Letztere Version ist eine unhaltbare Verschwörungstheorie. Aber bis heute sind viele Fragen jener Nacht ungeklärt.

Erdogans Anhänger gehen davon aus, dass der Putsch durch die Gülen-Bewegung initiiert war. Fethullah Gülen gilt als einer der einflussreichsten Prediger des Islam und ist das Oberhaupt der Gülen-Bewegung. Er gründete in der Türkei und in vielen anderen Ländern der Welt Gülen-nahe Kitas, Schulen sowie andere Bildungseinrichtungen und war im Besitz von mehreren Radio- und Fernsehsendern sowie Zeitungen. Auch in hohen Positionen des Staats- und Beamtenapparats waren Gülenisten vertreten. Der Historiker Nikolaus Brauns – der Bücher und Artikel zur Geschichte und Politik der Türkei geschrieben hat – aber hält, auch aufgrund fehlender Beweise, eine komplette Inszenierung seitens Erdogan für unwahrscheinlich. Dafür sprächen unter anderem die hohen Opferzahlen sowie der Tod von Erol Olcuk, ein enger Freund und Verbündeter Erdogans. Hinzu käme, so Brauns, der Zeitpunkt des Umsturzversuchs: „Ein Putsch wird meistens nachts um etwa 2 Uhr verübt, dann, wenn alle Menschen schlafen, nicht um 22 Uhr in einer lebendigen Stadt wie Istanbul.“

Zu den Fakten: Am Freitagabend des 15. Juli versuchten Teile des türkischen Militärs, darunter Gülen-Anhänger, Erdogans Regierung zu stürzen. In Istanbul und Ankara kam es zwischen regierungsnahen Kräften und Putschisten zu schweren Gefechten. Panzer fuhren auf und blockierten Brücken und Straßen. Hubschrauber und Kampfjets kreisten über der Hauptstadt Ankara. Der Atatürk-Flughafen wurde von Soldaten besetzt und am Taksim-Platz gab es zwischen Polizei und Soldaten Schießereien. Auch das Parlamentsgebäude in Ankara wurde beschossen. Noch in der Nacht meldete sich der türkische Präsident per Videoschalte im Sender CNN Türk und rief seine Anhänger zur Gegenwehr auf. Mehr als 250 Menschen sollen ums Leben gekommen sein, etwa 2000 wurden verletzt. Gleich am nächsten Tag war alles vorbei – und die Regierung gewann die Kontrolle zurück.

Seit diesem Zeitpunkt kursieren wirre Theorien über die wahren Hintergründe des Putschversuchs. Das Gerücht, Erdogan habe den Putsch selbst inszeniert, hält sich besonders aufgrund seiner Aussage bei einer Pressekonferenz, in der er den Aufstand letztendlich als ein „Geschenk Gottes“ bezeichnete. Zudem gebe dieses Ereignis der Regierung die Gelegenheit, „die Streitkräfte zu säubern“. War der Umsturz nur Mittel zum Zweck, um Militär und Justiz in der Türkei vollständig unter Erdogans Kontrolle zu bringen und somit seine eigene Machtposition auszubauen?

Auch wenn ein verstärkter Abbau der Demokratie seit dem Putschversuch in der Republik zu beobachten sei, wäre man sich in der Türkei und in Europa mittlerweile einig, dass es sich nicht um eine Inszenierung Erdogans handeln könne, sagt Hürcan Asli Aksoy, stellvertretende Leiterin des Centrums für angewandte Türkeistudien der Stiftung Wissenschaft und Politik. Aksoy erklärt, dass die Konflikte zwischen Gülen und Erdogan bereits im Jahr 2011 begonnen hätten. Auch wenn es nach der Niederschlagung des Putsches zu Massenentlassungen gekommen sei, habe Erdogan beispielsweise bereits im Jahr 2013 „Säuberungen“ im Staatsapparat vorgenommen.

"Nach diesem Putschversuch wird Erdogan noch stärker sein" - Pressestimmen
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"Nach diesem Putschversuch wird Erdogan noch stärker sein"

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Und Nikolaus Brauns meint, Erdogans Plan, die Militärführung im August 2016 umzustrukturieren, sei eher ein weiteres Indiz dafür, dass der Putschversuch voreilig von der Gülen-Bewegung ausging. Noch vor den Ereignissen hätten Medien darüber berichtet, dass es zu Aufräumaktionen kommen werde. So seien die obersten Offiziere und Generäle darüber informiert gewesen, dass sie ihre Ämter verlieren würden. Die Gülenisten hätten daher schnell handeln müssen, erklärt Brauns. Deshalb sei es zu einem chaotischen Putschversuch gekommen. „Die Putschisten mussten Wochen früher reagieren, als wahrscheinlich geplant“, sagt Brauns.

Mehrere Tausend dieser mutmaßlichen Putschisten wurden in der Nacht des 15. Juli festgenommen, Zehntausende Soldaten und Staatsbedienstete entlassen und mehr als 100 Medien- und Verlagshäuser geschlossen. Die Regierung leitete eine Verfassungsänderung ein, mit dem das parlamentarische System auf das neue Präsidialsystem umgestellt wurde. Erdogan konnte per Dekret regieren. Mit dem bis 2018 andauernden Ausnahmezustand wurden außerdem viele Grundrechte außer Kraft gesetzt.

So konnte Erdogan am Parlament vorbeiregieren und Rechte sowie Freiheiten einschränken. Es wurden Tausende Richter entlassen. Türkische Behörden schlossen mehrere Militärakademien. Viele Journalisten sitzen entweder im Gefängnis oder ihnen wurde der Presseausweis entzogen. Ebenfalls stehen rund 1000 Unternehmen unter Kontrolle der Regierung sowie viele Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Schulen – wenn sie nicht schon längst per Dekret des Präsidenten dichtgemacht wurden. Aus Sorge um die Menschenrechte hat der Europarat die Türkei außerdem unter Beobachtung gestellt.

Kritiker beklagen, der Präsident habe den Putschversuch benutzt, alle Macht auf sich zu ziehen. Die Situation habe Erdogan ganz klar für seine eigenen politischen Ziele eingesetzt, denn neben den Gülenisten wurden auch viele Regimekritiker wie Journalisten und Oppositionelle entlassen oder eingesperrt, sagt Aksoy.

Brauns zufolge habe Erdogan den Putschversuch zwar nicht geplant, ihn aber zu seinen Gunsten genutzt – und wegen der vielen offenen Fragen geht Brauns von einem „kontrollierten Putsch“ aus. Denn warum besetzten die Militärs beispielsweise nur den Staatssender TRT, während AKP-Politiker sowie Erdogan selbst auf den privaten Sendern Interviews gaben? Auch bleibt die Frage offen, warum der türkische Geheimdienst (MIT) die Regierung nicht vorzeitig informiert hat und warum der MIT und die Armee den Beginn des Aufstandes abwarteten. Denn der Geheimdienstchef Hakan Fidan, ein Vertrauter Erdogans, war über einen möglichen Staatsstreich informiert, verständigte allerdings zunächst den Vizearmeechef. Erdogan soll von seinem Schwager von dem Putschversuch erfahren haben. Aksoy und die Partei CHP schließen ebenfalls einen „kontrollierten Putsch“ nicht aus.

Einige Oppositionelle und Ermittlungsbehörden beschuldigen zwar weiter Fethullah Gülen für den Umsturzversuch verantwortlich zu sein, dennoch fordern sie eine detaillierte Aufarbeitung der Ereignisse. „Wir warten auf die Beschlüsse der Gerichtsverfahren. Denn es sind noch immer viele Fragen offen“, sagt Aksoy.

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