Kreis Heinsberg Viele Ungereimtheiten - bis zur Mordthese

Kreis Heinsberg · Jenny Böken ging 2008 über Bord des Marine-Schulschiffs "Gorch Fock" und starb. Ein Spielfilm beleuchtet nun das Unglück, das für die Eltern nie genügend aufgeklärt wurde. Tatsächlich gibt es viele Gerüchte - sogar bis hin zum Mord.

Mit ansehen, wie die eigene Tochter ein zweites Mal stirbt - Uwe Böken hat sich diese unvorstellbare Tortur angetan. Seine Tochter, das war die junge Jenny aus dem Geilenkirchener Ortsteil Teveren, die als Kadettin des Segelschulschiffs "Gorch Fock" kurz vor ihrem 19. Geburtstag unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist. Das ist fast neun Jahre her, wird aber heute in der ARD im Rahmen des Spielfilms "Tod einer Kadettin" und anschließend durch die Dokumentation "Der Fall Gorch Fock. Die Geschichte der Jenny Böken" erneut thematisiert.

Die Dokumentarfilmer Hannah und Raymond Ley hatten Jennys Eltern und Brüdern den Film als Erste gezeigt. Jenny heißt in dem Spielfilm Lilly Borchert und wird von Maria Dragus eindrucksvoll dargestellt - eine junge Frau, die mit dem rauen Bordleben nicht zurechtkommt und zur Außenseiterin wird. "Ja, das hätte von Jenny kommen können, das gibt ihr Tagebuch auch her", kommentiert Uwe Böken Spielfilm-Szenen, "die seit achteinhalb Jahren in meinem Kopf sind und die ich eigentlich nicht noch einmal sehen muss".

Doch Uwe und Marlis Böken, die Mutter, haben trotz der quälenden Erinnerungen zuvor viele Stunden mit den Machern der beiden Filme verbracht. "Wir erhoffen uns davon endlich Aufklärung darüber, was in der Nacht vom 3. auf den 4. September 2008 vor Norderney wirklich passiert ist. Wir hoffen, dass durch die Ausstrahlung der Druck auf diejenigen erhöht wird, die bislang geschwiegen haben - aus welchen Gründen auch immer."

Die Kieler Justiz hat den Fall längst zu den Akten gelegt. Die Ursache für diesen Todesfall sei nicht mehr zu ermitteln, hieß es - die entstellte Leiche war erst nach elf Tagen vor Helgoland gefunden worden. Die Eltern bezweifeln indes bis heute die offizielle Version des Hergangs. Und tatsächlich gibt es viele Ungereimtheiten, die Gerüchte bis hin zum Mord aufkommen ließen - eine These, die 2013 auch ein Kriminalroman namens "Mordsee" aufgriff. Der Autor, der 2007 selbst als Seemann auf der "Gorch Fock" fuhr, will durch seine Erlebnisse an Bord dazu inspiriert worden sein.

Auch der Spielfilm bietet keine klare Antwort an und nutzt das Genre zu einem Kunstgriff: Ein Journalist an Bord spricht mit der Toten, dem Zuschauer werden verschiedene Szenarien angeboten - vom unglücklichen Sturz ins Wasser über einen Selbstmord bis hin zu einem Verbrechen. Obwohl der Film inklusive der Uniformdetails und Kommandos sehr echt wirkt, hat ihn die Deutsche Marine nicht unterstützt. Das Schiff heißt im Film deshalb "Johann Kinau", der Geburtsname des Seefahrt-Dichters Gorch Fock, gedreht wurde im Herbst 2016 in der Danziger Bucht auf dem polnischen Segelschulschiff "Dar Mlodziezy". Vorsichtshalber heißt es vonseiten der ARD, der Film erhebe "nicht den Anspruch, die Geschehnisse authentisch wiederzugeben".

Unwidersprochen bleibt daher das Bild einer teils sehr unsympathischen Bundeswehr: Stabsärzte, die wider besseres Wissen die offenbar untaugliche Jenny Böken zum Borddienst zulassen, damit die Frauenquote erhöht wird, männliche Kadetten, die sich sexuelle Übergriffe erlauben, widerliche Saufrituale, mangelnde Dienstaufsicht der Vorgesetzten.

Fakt ist: Die junge Frau, als Segelwache auf Deck eingeteilt, war nachts auf Wache über Bord gegangen, ihre Leiche wurde elf Tage später nordwestlich von Helgoland von einem Fischereiforschungsschiff geborgen. Beim Studium der rund 2000 Seiten starken Ermittlungsakten stieß der Anwalt der Familie auf Merkwürdiges, wie er 2011 unserer Zeitung berichtete: So sei bei der angeblich Ertrunkenen bei der Obduktion kein Wasser in der Lunge gefunden worden. Ein E-Mail-Verkehr mit den Eltern belege, dass ihre Tochter sie verzweifelt um einen Frauenarzt-Termin nach der Rückkehr in den Heimathafen Kiel gebeten habe, so der Anwalt. War sie vergewaltigt worden? Hatte sie dem oder den Tätern mit einer Anzeige nach der Rückkehr in den Heimathafen Kiel gedroht?

Die Dokumentation befasst sich mit weiteren Merkwürdigkeiten: So wird der vom NDR schon früher verbreitete Vorwurf der Familie im Zusammenhang mit der Obduktion der Toten wieder aufgegriffen. Die Akte belege, dass der Sohn des Obduzenten der Leiche, der in Kiel mögliche Drogenspuren im Körper als normalen Verwesungsprozess eingestuft hatte, in der Ereignisnacht wenige Meter von Jenny Böken entfernt Wache an Deck gehabt habe. "Das beweist unter anderem die uns vorliegende Besatzungsliste. Die Akte belegt nicht, dass die Obduktion manipuliert worden ist. Die Möglichkeit bestand jedoch, falls der Sohn in die Sache verwickelt gewesen ist", sagt Uwe Böken. "Das aber wurde wie so vieles in diesem Fall eben nicht ausreichend seitens der Staatsanwaltschaft ausermittelt. Wir haben viele solcher Mosaiksteinchen zusammengetragen."

Spielfilm "Tod einer Kadettin", ARD, 20.15 Uhr; Dokumentation "Der Fall Jenny Böken", ARD, 21.45 Uhr

(mic)
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