Italien Forscher kritisieren Erdbeben-Schutz

Amatrice · Nach den schweren Erdstößen in Italien suchen die Retter weiter nach Überlebenden. Bislang gehen die Behörden von mindestens 250 Toten aus. Experten fordern eine bessere Vorbereitung des Landes auf Naturkatastrophen.

Noch immer sind nicht alle Opfer und Vermissten nach dem schweren Erdbeben in Mittelitalien vom Mittwoch gefunden. Der Zivilschutz sprach in einer vorläufigen Bilanz von mindestens 250 Toten. Die Zahl wird aber vermutlich weiter steigen, sagte der Chef der Behörde. Mehr als 365 Menschen wurden verletzt. Die Retter suchten auch in der Nacht weiter nach Überlebenden in den zerstörten Gemeinden. Seit dem schwersten Erdstoß (mehr als Stärke 6) in der Nacht zum Mittwoch verzeichneten die Behörden rund 460 weitere Beben, was die Rettung erschwerte. Die Helfer suchten die ganze Nacht mit Taschenlampen und Spürhunden nach Opfern.

In Italien wurden an vielen öffentlichen Gebäuden die Fahnen auf halbmast gesetzt. Die Regierung in Rom hatte dies als Zeichen der Trauer und zum Gedenken landesweit angeordnet. Zugleich wurde signalisiert, die Überlebenden in den vom Beben zerstörten Dörfern wie Amatrice, Accumoli oder Aquata del Tronto nicht im Stich zu lassen. Regierungschef Matteo Renzi gab sich am Tag der Katastrophe ebenso staatsmännisch wie mitfühlend. "Jetzt müssen die Tränen trocknen", sagte der italienische Ministerpräsident nach seinem Besuch im Erdbebengebiet, "dann geht es an den Wiederaufbau."

Alle paar Jahre wird das Land von einem schweren Erdbeben heimgesucht, zuletzt 2012 in der Emilia-Romagna. Immer wieder fielen Hunderte Menschen in den vergangenen Jahrzehnten den Naturkatastrophen zum Opfer. Der Wiederaufbau ist zweifellos notwendig, aber Geologen, Seismologen und Angehörige des italienischen Zivilschutzes beklagen vor allem den Mangel an Erdbeben-Prävention in Italien. "Immer unvorbereitet", titelte die Mailänder Zeitung Libero auf der ersten Seite. In Italien wurden seit 1968 insgesamt 180 Milliarden Euro für den Wiederaufbau nach Erdbeben investiert, hat der italienische Verband der Bauunternehmer errechnet. 13,7 Milliarden Euro wurden alleine für die Rekonstruktion nach dem Erdbeben 2009 in den Abruzzen bereitgestellt.

"In Italien haben wir trotz allem keine Präventions-Kultur", sagt Francesco Peduto, Vorsitzender des italienischen Geologen-Rates. 24 Millionen der knapp 60 Millionen Italiener leben laut Peduto in Gegenden mit erhöhtem Erdbeben-Risiko, die betroffenen Gegenden reichen vom Friaul über den Apennin bis nach Kalabrien und Sizilien. "Wir geben uns damit zufrieden, den Notstand zu verwalten", kritisiert der Erdbebenforscher Massimo Cocco des italienischen Instituts für Geophysik und Vulkanologie (Ingv). Enzo Boschi, Seismologe und ehemaliger Präsident des Ingv, behauptet: "In Italien wird nur nach Erdbeben verantwortungsvoll gebaut." Der Fall war dies etwa in der umbrischen Stadt Norcia, die bereits 1979 und 1997 von Erdbeben betroffen war. Nach entsprechenden Baumaßnahmen gab es beim jetzigen Beben weder Tote noch Verletzte und kaum Schäden, obwohl das Epizentrum in unmittelbarer Nähe lag.

Unisono fordern die Experten nun einen mehrfachen Wandel. Zum einen bedürfe es einer neuen "Kultur der Prävention". Die oft ahnungslose Bevölkerung in den entsprechenden Gebieten müsse für die Risiken sensibilisiert werden und eine Anleitung für richtiges Verhalten im Fall von Erdbeben bekommen. Das sei bisher nicht der Fall. Bereits in der Schule müssten Kurse gegeben werden. "Zwischen 20 und 50 Prozent der Todesfälle haben ihre Ursache in Fehlverhalten der Personen während eines seismischen Ereignisses", sagt Peduto.

Andererseits monieren die Experten die mangelnde Sicherung der Gebäude gegen Erdbeben. Ihr Einsturz verursacht die meisten Todesfälle. Obwohl Italien das am meisten von Erdbeben betroffene Land in Europa ist, seien 70 Prozent aller Immobilien nicht erdbebensicher. Grund dafür ist auch die alte Bausubstanz wie in den teils mittelalterlichen Dörfern Amatrice oder Accumoli. Steuerbegünstigungen für erdbebensichere Renovierungen privater Gebäude erwiesen sich bislang als Flop, Eigentümer haben oft weder Mittel noch Interesse an Umbauten.

Gegen die Kategorisierung privater Gebäude wehrten sich Italiens Immobilieneigentümer bisher erfolgreich. Die Etikettierung eines Hauses als unsicher hätte entweder eine Entwertung oder teure Umbaumaßnahmen zur Folge. "Die Regierung müsste wenigstens Krankenhäuser und Schulen sichern lassen", sagt Seismologe Massimo Cocco. Geologe Peduto fordert gar einen "nationalen Plan" zur Sicherung der Gebäude.

Erst als im Herbst 2002 in der Region Molise 27 Kinder und eine Lehrerin nach einem Erdstoß in ihrer Schule erdrückt wurden, begann die Regierung mit der Unterteilung des Landes in Gefahrenzonen. Erdbebensicheres Gebiet gibt es demnach seit 2004 in Italien offiziell nicht mehr. Konsequenzen aus der Erfassung der besonders sensiblen oder strategisch wichtigen Gebäude wurden aber nur ungenügend gezogen. Immer noch sind etwa zahlreiche Schulen nicht erdbebensicher.

So stürzte beim jetzigen Beben in Mittelitalien das Schulgebäude von Amatrice ein, in dem sich Kindergarten, Grund-, und Mittelschule befanden, obwohl es 2012 angeblich erdbebensicher renoviert worden war. Da sich das Beben nachts ereignete, war das Gebäude leer.

(RP)
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