Interview: Hans W. Geißendörfer "Viele Serien werden einfach entsorgt"

Köln · Hans W. Geißendörfer zum Jubiläum des Dauerbrenners "Lindenstraße". Am Sonntag zeigt die ARD die 1500. Folge.

Die "Lindenstraße" ist ein Produkt der Liebe, und das sogar buchstäblich: In den späten 70ern verliebte sich der gebürtige Augsburger Hans W. Geißendörfer (73) in eine Engländerin und lernte auf diese Weise das englische Fernsehen und die Serie "Coronation Street" kennen. Das Vorbild der "Lindenstraße" gab es damals schon 25 Jahre. Die am 8. Dezember 1985 gestartete ARD-Serie (sonntags, 18.50 Uhr) spielt zwar in München, wird aber in Köln-Bocklemünd produziert.

Am Sonntag zeigt die ARD die 1500. Folge der "Lindenstraße". Wird es auch eine 2000. geben?

Geißendörfer Ich hätte nichts dagegen. Nächstes Jahr wird die "Lindenstraße" 30, und es dürfen ruhig noch mal 30 Jahre werden.

Auf dem Gipfel des Erfolges kommt unweigerlich die Frage nach dem Rücktritt. Werden Sie eines der Jubiläen zum Abschied zu nutzen?

Geißendörfer Zum Glück hat mir bislang noch niemand den Rücktritt nahegelegt. Die "Lindenstraße" ist immer noch das Zentrum meiner beruflichen Lebenswelt, und auch an meiner Leidenschaft hat sich nichts geändert. Natürlich weiß ich, dass das nicht ewig so weitergehen wird, deshalb habe ich mir sehr wohl bereits Gedanken über die Nachfolge gemacht. Aber das hat noch Zeit.

Gibt es Anzeichen bei der ARD dafür, dass es womöglich doch keine weiteren 30 Jahre werden?

Geißendörfer Eigentlich nicht, aber natürlich gibt mir zu denken, wie andere verdiente Serien als angeblich veraltet im Orkus entsorgt werden. Vermutlich denken die Programmverantwortlichen in diesem Zusammenhang auch über die "Lindenstraße" nach, aber es gibt einige Zeichen, die mich zuversichtlich stimmen.

Welche Zeichen sind das?

Geißendörfer Der Sender unterstützt uns in dem Bemühen, die Serie der Zeit anzupassen. Wir erhalten eine neue Kameraausstattung, damit die "Lindenstraße" ein moderneres Aussehen bekommt. Bisher sind unsere Kameras kaum beweglich.

Meist muss als Grund für die Absetzung die Quote herhalten. Wie sehen Ihre Zahlen aus?

Geißendörfer Die Entwicklung ist positiv. Unser Marktanteil ist mit über elf Prozent immer noch zweistellig, wir haben regelmäßig bis zu drei Millionen Zuschauer. Ich selber hätte allerdings gern noch mehr, und das wäre auch leicht zu erreichen, wenn der Sender etwas Geld in die Werbung investieren würde.

Warum tut er das nicht?

Geißendörfer Das wüsste ich auch gern. Die Werbung für die "Lindenstraße" war von Anfang an katastrophal schlecht. Wir haben ein einziges Mal Werbemittel bekommen, das war nach 20 Jahren zur 1000. Folge. Da gab es zwei Wochen lang eine riesige Plakataktion, und prompt sind die Zuschauerzahlen von vier auf sieben Millionen gestiegen. Das war der Beweis, dass sich Werbung lohnt, aber aus unerfindlichen Gründen hat der Sender das nie wiederholt.

Vielleicht, weil die "Lindenstraße" auch so Erfolg hat?

Geißendörfer Ja, das sagt man mir auch. Und was ist mit "Tatort"? Oder Fußball? Das wird auch wie blöd beworben. Jeder Werbefachmann kann bestätigen, dass gerade die gut laufenden Produkte regelmäßig beworben werden müssen, die Wirtschaft macht das doch vor.

Wie schaffen Sie es, sich nach 25 Jahren noch zu motivieren?

Geißendörfer Indem ich mich so leidenschaftlich engagiere und um Inhalte kümmere wie am ersten Tag. Ich will, dass "Lindenstraße" klug unterhält und sich mit Themen befasst, die für dieses Land wichtig sind. Aktuell geht es zum Beispiel um den Bau einer Moschee, ein Thema, das auch unser Publikum kontrovers diskutiert. Der Bezug zu aktuellen Stimmungen und Strömungen ist maßgeblich für den Erfolg.

Was halten Sie von dem Vorwurf, deutsche Serien seien im Vergleich zu US-Produktionen TV von gestern?

Geißendörfer Der Vergleich ist schon deshalb nicht angemessen, weil den Amerikanern ganz andere Mittel zur Verfügung stehen. Diese Serien sind für uns nur in einer Hinsicht ein Vorbild: Sie werden nicht mehr auf Stativ fotografiert, sondern auf der Schulter, so dass die Bilder "atmen". Eine ähnliche Perfektion streben wir auch an. Das hat übrigens Tradition: Wir haben als erste mit 16 zu 9, HD und Stereophonie produziert. Das zeigt, dass auch Klassiker Investitionen brauchen, wenn man den Erfolg erhalten will.

DIE FRAGEN STELLTE TILMANN P. GANGLOFF

(RP)
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