So war der „Tatort“ aus Münster Schöne neue (Schein)Welt

Münster/Düsseldorf · Der „Tatort“ aus Münster widmet sich den Schattenseiten von Social Media. Das soll ungewöhnlich, gesellschaftskritisch, witzig und innovativ sein, greift aber beinahe auf der ganzen Linie daneben. Das kann auch ein wirklich gut aufgelegtes Boerne-Thiel-Duo nicht retten.

Tatort 2023: Sendetermine, Sendezeiten & Infos in der Übersicht
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Diese „Tatorte“ kommen 2023 ins Fernsehen

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Foto: WDR/Bavaria Fiction GmbH/Martin Valentin Menke

Darum ging es: Evita Vogt (Laura Louisa Garde), Mutter und Influencerin (= Momfluencerin) wird erhängt in ihrem Haus aufgefunden. Was wie ein Suizid aussieht, ist tatsächlich ein Mordfall, die junge Frau war - das findet Super-Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan-Josef Liefers) schnell heraus – schon tot, bevor man sie unter die Decke hängte. Der TV-Zuschauer wusste das allerdings schon vorher, denn der Tod der Frau wird gleich in der ersten Szene gezeigt – origineller Weise aus der Perspektive eines Kühlschranks.

Verdächtige und Motive gibt es genug, denn Evita Vogt hatte Feinde – tausende möglicherweise: „Magic Mom“, so Vogts Influencer-Name, war als Social-Media-Star mit den Themen Mutterschaft und Familie erfolgreich, und zog damit neben einer riesigen Fangefolgschaft auch die obligatorischen Hater an. Die Momfluencerin wurde geliebt und gehasst – und von einigen gar mit dem Tode bedroht. Und natürlich hatte Vogt im Netz jede Menge Konkurrenz. Nachbarin Thekla Cooper (Monika Oschek) kämpft online ebenfalls um Follower – wenngleich mit deutlich weniger Erfolg als die von ihr verachtete „Super-Mutter“ von der anderen Straßenseite. An der gefällt Cooper nur Ehemann Vogt (Golo Euler), der seinerseits nicht völlig abgeneigt erscheint.

Verdächtig ist auch Influencer-Konkurrentin Sabine Hertweck (Agnes Decker), im Netz bekannt als „BusyBine“. Zumal die sich als Betrügerin entpuppt: Die angebliche Momfluencerin hat gar kein Kind. In einem Fabrik-Loft hat sie mit großem Aufwand eine Kulisse aufgebaut – inklusive täuschend echt verarbeiteter Babypuppen. Evita Vogt wusste von dem Schwindel und wollte die Konkurrentin erpressen. Na, wenn das kein Motiv ist!

Das war die Lösung des Falls: Es hätte so viele schöne Möglichkeiten gegeben, aber am Ende war es – gähn – der vernachlässigte Ehemann. Und natürlich hat er sie angeblich gar nicht umbringen wollen: „Ich wollte nur, dass sie mich braucht!“ beteuert Moritz Vogt. Damit dieser Fall eintritt, hat Vogt seiner Frau ein Mittel, gegen das sie nachweislich allergisch ist, heimlich verabreicht und das Gegenmittel versteckt, das sie – Achtung, Bezug zum Anfang! – im Kühlschrank aufbewahrte. Ehemann Vogt wollte den Moment abpassen, wenn Evita den Kühlschrank öffnet und verzweifelt nach dem rettenden Medikament sucht. Via Handynachricht (Smart Home-Technologie sei Dank), so der Plan, würde Moritz Vogt dann informiert und könnte seiner Frau zu Hilfe eilen. Allein, der Plan geht schief, Vogt kommt zu spät. Ob das nun beabsichtigt war oder nicht, bleibt offen, aber das tut wenig zur Sache. Wann ging es in einem Münster-Tatort je wirklich um die Lösung des Falls?

Darum ging es wirklich: Tja. Um Kritik an Social Media? Feminismus? Gender-Diversity? Das kam alles irgendwie vor, versandete aber schnell wieder oder wurde mithilfe von Plattitüden abgehandelt. Oder war alles gar satirisch gemeint? Falls ja, wen nimmt die Satire aufs Korn?

„Magic Mom“ startet nicht schlecht und hebt an, ein ungewöhnlicher, witziger „Tatort“ zu werden, der gleichzeitig ein wichtiges Thema der Zeit aufgreift. Leider misslingt das Vorhaben. Dafür ist diese Folge selbst für Münsteraner Verhältnisse zu albern und vor allem zu lieblos und schluderig inszeniert. Zumal neben dem Anspruch, die Scheinwelt von Social Media zu kritisieren, unbedingt auch noch alles andere an Gesellschaftskritik (Geschlechtergerechtigkeit, Elternschaft, Feminismus etc.) in die Handlung gequetscht werden musste, was dem Produktionsteam offenbar gerade relevant erschien.

Diplomatisch ausgedrückt: Der „Tatort“ hatte seine Momente (siehe unten). Das gilt ganz besonders dann, wenn Boerne und Thiel einfach nur Boerne und Thiel sein dürfen – schrullig, witzig und zum Teil sogar richtig rührend. Doch diese Auftritte reichen nicht als Ausgleich für die unlogischen Seitenstränge mit blassen Nebenfiguren, die wiederum unmotiviert durchs Bild stolpern.

Die besten Szenen: Die eine hat mit dem Fall zu tun, die andere überhaupt nicht, dafür aber mit Boerne und Thiel. Erstere ist gut, weil sie sich – endlich, endlich! möchte man rufen – ernsthaft mit dem Thema befasst, um das sich dieser Tatort angeblich dreht: Die (Schein)Welt von Social Media und ihre Gefahren. Thiel und Boerne werden von Sabine Hertweck alias BusyBine ertappt, als sie in deren Wohnung herumschnüffeln und die Kulisse ihres Doppellebens entdecken. Was folgt ist eine echte Kritik an dem Konzept der Selbstvermarktung via Smartphone. Mit Ende zwanzig, so erzählt es BusyBine, während Boerne mit dem Requisiten-Obst herumspielt, sei sie von jüngeren Influencerinnen immer mehr verdrängt worden. Da habe sie beschlossen, sich auf den „Mama-Content“ zu konzentrieren. „Ich war im richtigen Alter, und ich hatte die Follower“, sagt Herteck achselzuckend – dass sie nie schwanger war, ist für die Geschäftsfrau ein leicht überwindbares Hindernis. Sie vergleicht sich mit einer Schauspielerin, die in eine Rolle eintaucht. Und warum auch nicht? Ist nicht alles in der Welt der Sozialen Medien am Ende Inszenierung?

Diese Szene ist gleich doppelt stark, denn neben der Kritik an Instagram und Co., kulminiert in der absurden Versuchsanordnung „Fake Baby“ der massive Druck, dem Frauen ausgesetzt sind – im Netz und im echten Leben: Nach der Rolle der jungen Schönen kommt die der Mutter – oder eben nichts.

Die zweite Lieblingsszene schließt gleich daran an und führt direkt in den Thiel-und-Boerne-Mikrokosmos. Zurück aus der Instagram-Kulisse gönnen sich die Kollegen eine Pause am Wasser, Thiel hat Eis geholt. Stresseis. „Immer, wenn mit einer Waffe auf mich gezielt wurde, muss ich ein Eis essen“, erläutert er. Dass die Waffe sich als unter einem Tuch verstecktes Mobiltelefon entpuppte, tut dem Bedürfnis keinen Abbruch. In seltener Harmonie sitzen die beiden also am Ufer, sinnieren über den Fall, schlecken Eis. „Wollen Sie mal meins probieren?“ fragt Boerne, die Waffeln werden getauscht, und alles ist noch besser als vorher. Die letzte Einstellung der Szene zeigt die beiden von hinten, Eis in der Hand, Wasser im Hintergrund. In der Ferne hupt eine Fähre. Und das Leben ist schön.

Vorübergehend. Und offline, versteht sich.

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