Auf Sky Neue Doku über Affäre um „Spiegel“-Reporter Claas Relotius

Unterföhring · Claas Relotius war eine Zeit lang der Superstar unter den deutschen Reportern. Ende 2018 wurde bekannt, dass er einen Großteil seiner Texte erfunden hatte. Die Sky-Doku „Erfundene Wahrheit“ geht der Sache auf den Grund.

Der Journalist Claas Relotius.

Der Journalist Claas Relotius.

Foto: dpa/Julius Hirtzberger

Irgendwann stellt Juan Moreno eine weiße Archivbox auf den Tisch. „Die Riesenscheiße“ ist in Handschrift auf der Seite zu lesen. Kurz darauf liegen vor ihm: Schnellhefter, Akten, ein „Spiegel“-Heft. Für das Hamburger Magazin hatte Moreno mit Claas Relotius an einer Geschichte über Flüchtlingstrecks aus Lateinamerika an der Grenze zwischen Mexiko und den USA gearbeitet. Der Text „Jaegers Grenze“ erschien Mitte November 2018 im „Spiegel“. Zunächst vergeblich hatte Moreno versucht, die Redaktion auf gravierende Unstimmigkeiten in den von Relotius verfassten Passagen hinzuweisen.

Wenig später jedoch musste Morenos Co-Autor „weitgehende Fälschungen“ zugeben. Große Teile habe er offenkundig aus anderen Reportagen und Dokumentarfilmen übernommen, „andere hat er sich ausgedacht“, fasste der „Spiegel“ zusammen. Doch das sollte nur die Spitze des Eisbergs sein. Es stellte sich heraus, dass Relotius, in den Jahren zuvor mit Preisen überschütteter Reporter, in zahlreichen Beiträgen völlig freihändig Fakten und Fiktion miteinander vermischte. Mit Journalismus hatte all das nichts zu tun. Oder doch?

Daniel Sagers ebenso sorgfältig recherchierte wie sehenswerte Dokumentation „Erfundene Wahrheit - Die Relotius Affäre“, abrufbar ab 24. März auf Sky Q und dem Streamingdienst WOW, rekonstruiert die Geschichte um den gefallenen Star und zeichnet zugleich das Bild einer Branche, die einerseits nach exklusiven, einzigartigen Storys lechzt, andererseits unter einem großen Konformitätsdruck steht. „Solche Geschichten gibt es halt wirklich nur im Märchen oder in Hollywood“, sagt Steffen Klusmann, der kurz nach dem Skandal Chefredakteur des „Spiegel“ wurde, rückblickend. Dennoch scheint das niemandem in den Jurys der Reporterpreise aufgefallen zu sein, die Relotius einen Preis nach dem anderen zuerkannten.

Schon bald nachdem Relotius aufgeflogen war, verarbeitete Moreno seine Erfahrungen in dem Buch „Tausend Zeilen Lüge“; 2022 kam Bully Herbigs etwas klischeelastiger Spielfilm zu der Affäre in die Kinos. Wer sich ein umfassendes Bild von dem „Clusterfuck“ (O-Ton Klusmann) machen will, ist bei Sagers Doku eindeutig am besten aufgehoben. Auch er beginnt mit der „Spiegel“-Reportage „Jaegers Grenze“ und mit Moreno, dessen Hartnäckigkeit letzten Endes alles ins Rollen brachte. Doch Sager lässt auch frühere Förderer von Relotius wie Daniel Puntas, Chefredakteur des Schweizer Magazins „Reportagen“, zu Wort kommen, ge- und enttäuschte Kollegen, vor allem aber: Menschen, denen der vermeintliche Journalist in seinen Beiträgen teils unglaubliche Dinge andichtete.

Immer wieder wird das berühmte Zitat von Gründer Rudolf Augstein im „Spiegel“-Hochhaus eingeblendet: „Sagen, was ist.“ In durchaus beeindruckender Offenheit berichten Chefredakteur Klusmann oder Cordelia Freiwald, seit 2019 Leiterin der „Spiegel“-Dokumentation, wie es Relotius gelang, ein ums andere Mal seine Umgebung zu täuschen. Im Abspann ist zu lesen, dass andere Vertreterinnen und Vertreter des Magazins eher zurückhaltend reagierten. Manch einer, wie der damals verantwortliche Chefredakteur Klaus Brinkbäumer, hielten es demnach nicht einmal für nötig, auf Interviewanfragen zu antworten.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Der eher unscheinbar daherkommende Reporterstar führte nicht nur die Hamburger hinters Licht. Trotzdem konzentriert sich die Doku auf den „Spiegel“. „Weil dieser sich fest an Relotius gebunden hat und er all seine großen Geschichten für den 'Spiegel' geschrieben hat“, begründet Regisseur Sager.

Die Folgen reichen indes über den „Spiegel“ hinaus. „Ich glaube, dass es der schlimmste Skandal ist, den es im deutschen Journalismus seit 1945 gegeben hat“, meint der Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“, Wolfgang Krach. Hinzugefügt sei, dass die SZ in den 1990ern mit gefälschten Promi-Interviews von Tom Kummer eigene „Relotius-Momente“ hatte. Ähnliche Kategorie: die gefälschten „Hitler-Tagebücher“, die der „Stern“ vor 40 Jahren veröffentlichte.

Die Affäre um Relotius wiegt wohl vor allem deswegen so schwer, weil im Internet-Zeitalter und angesichts von immer neuen Sparrunden der klassische Journalismus unter enormem Druck steht. Wohin geht die Reise? Darauf kann Sagers Doku naturgemäß keine Antwort geben. Aber der Film regt dazu an, darüber nachzudenken. Die kurzzeitig in die Kritik geratenen Reporterpreise werden weiter vergeben, als sei nichts passiert.

Und Relotius? „Als Hauptfigur des Skandals, die er ja nun mal ist, wollte ich ihm die Chance geben, sich zu erklären“, sagt Sager. „Er wollte sie aber nicht wahrnehmen.“ Zu Jahresbeginn machte die Nachricht die Runde, dass der 37-Jährige bei der Werbeagentur Jung von Matt untergekommen sei.

(boot/kna)
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