„Tatort“ mit Maria Furtwängler Jenseits aller Flüchtlings-Folklore

Göttingen · In ihrem 30. Fall legt sich Lindholm (Maria Furtwängler) bei der Suche nach der Wahrheit mit ihrer Partnerin Schmitz (Florence Kasumba) und ihrem Chef an. Wie berechtigt ist ihre Verdächtigung eines Flüchtlings?

 Charlotte Lindholm (l., Maria Furtwängler) und Anaïs Schmitz (Florence Kasumba) bemühen sich um Professionalität.

Charlotte Lindholm (l., Maria Furtwängler) und Anaïs Schmitz (Florence Kasumba) bemühen sich um Professionalität.

Foto: dpa/Christine Schroeder

In der Eröffnungsszene fließt kein Kunstblut; echtes verdickt sich – in den Adern des Zuschauers. Wie ein Geier umkreist ein mittelalter Mann eine junge Frau, die an einer einsamen Bushaltestelle sitzt und am Liebsten in ihrem Handy verschwinden würde. Er stellt sicher, dass sie allein ist, setzt sich eng neben sie und sagt: „Ich möcht‘ dir gern was zeigen.“ Sie versucht davon zu laufen, er verhindert es und zieht ein Messer aus der Tasche. „Schönes Stück, oder? Ist ‘n echter Wikingerdolch.“ Und dass er ihn wieder zurückstecken werde, gern sogar – wenn sie dafür ein paar Schritte mit ihm gehe und ihm ihrerseits „etwas“ zeige. Es ist körperlich unangenehm, das mit ansehen zu müssen, zumal ein zweiter Fluchtversuch scheitert, und er raunt: „Ich war doch bis jetzt ganz freundlich, oder nicht?“ Dann drängt er sie in Richtung Feld und Wald und, mutmaßlich, Verderben.

In der nächsten Szene findet ein Passant im Wald... die Leiche einer anderen Frau. Doch Lindholm und Schmitz vermuten als Täter sofort den urdeutschen „Mann mit dem Dolch“, einen Serientäter, von den Medien auf den Namen „Der Wikinger“ getauft, der auch bei ihrem Chef höchste Priorität genießt. Der Passant indes hat einen ganz anderen Verdacht: „Das war kein Europäer, auch wenn er nicht schwarz war meinetwegen. Aber es ist ja auch keine europäische Tat!“ Und er hat einen Mann vom Tatort flüchten sehen. „Hausnummer Syrien“, erklärt er überzeugt. „Das sieht man doch: Die Nase, der Blick, so stechend… eben ‘ne dunkle Ausstrahlung.“

Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) und Anaïs Schmitz (Florence Kasumba) bemühen sich um Contenance und Professionalität, also Offenheit für alle Ermittlungsansätze, stoßen dabei aber an Grenzen. Am Tatort gefundene DNA-Spuren passen zu jenen eines Sexualmords in Italien. Lindholm sagt wie zur Erinnerung an sich selbst: „Könnte ein deutscher Urlauber gewesen sein – oder ein Flüchtling auf der Durchreise.“ Die im Film wie im echten Leben schwer umstrittene biogeografische Herkunftsanalyse der Täter-DNA legt nahe, dass der Mann aus dem Nahen Osten kommt. Lindholm fühlt sich bestärkt, Schmitz ist erbost, weil ihre dienstältere Partnerin für dieses Indiz gleich mehrere Grenzen überschritten hat.

Maria Furtwängler betont, beim Sonntagskrimi habe man eine doppelte Verantwortung, gegenüber der Realität und der Geschichte. „Beiden gilt es, gerecht zu werden.“ Der „Tatort“ sei aber „kein Debattenbeitrag und keine Dokumentation. Das wäre eine Überforderung und eine Überhöhung.“ Für diesen Film ist das untertrieben. Den Grimmepreis-prämierten Erfolgs-Duo Daniel Nocke (Drehbuch) und Stefan Krohmer (Regie) ist ein starkes Werk gelungen: Lindholms 30. Fall ist ein enorm spannender, wendungsreicher, nie konstruiert wirkender Krimi – und zugleich ein Sittenbild Deutschlands einige lange Jahre nach 2015. Diverse Flüchtlinge und Flüchtlingshelfer tauchen auf, die mehr sind als die mit diesen Etiketten verbundene Stereotypen. Menschen mit Idealen und Charakterschwächen, Traumata und Träumen, unbewussten Denk-, Sprech- (achten Sie mal drauf, wer wen unangemessenerweise duzt) und Verhaltensmustern, kulturellen Prägungen und Vorurteilen über die kulturellen Prägungen anderer.

Diese Fiktionalisierung eines realen Falls aus dem Jahr 2017 war enorm reich an Fallstricken, aber sie ist ausnehmend gut gelungen. Der Film geht dahin, wo es weh tut. Eine unangenehme Situation jagt die nächste, auf allen Ebenen, gnadenlos geschrieben und von allen Beteiligten überzeugend gespielt.

„Tatort: Die Rache an der Welt“, Das Erste, So., 20.15 Uhr

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