TV-Nachlese "Absolute Mehrheit" Sido heißt jetzt Gregor Gysi

Erste Ausgabe von "Absolute Mehrheit" nach dem Sieg von Sido. Nur hauchdünn reißt Linke-Politiker Gregor Gysi die 50-Prozent-Hürde. Einen bemerkenswerten Auftritt legt auch AfD-Gründer Bernd Lucke hin. Er redet im Professoren-Stakkato sogar Stefan Raab an die Wand.

 Selbst Stefan Raab sprach nach de vierten Ausgabe von "Absolute Mehrheit" von einem ungewohnt emotionalen Schlagabtausch.

Selbst Stefan Raab sprach nach de vierten Ausgabe von "Absolute Mehrheit" von einem ungewohnt emotionalen Schlagabtausch.

Foto: dpa, Henning Kaiser

Erste Ausgabe von "Absolute Mehrheit" nach dem Sieg von Sido. Nur hauchdünn reißt Linke-Politiker Gregor Gysi die 50-Prozent-Hürde. Einen bemerkenswerten Auftritt legt auch AfD-Gründer Bernd Lucke hin. Er redet im Professoren-Stakkato sogar Stefan Raab an die Wand.

Das Talk-Format "Absolute Mehrheit" hat sich etabliert. Inzwischen trauen sich sogar Politiker aus der ersten Reihe zu Stefan Raab. Bundesminister Dirk Niebel ist ebenso gekommen wie Gregor Gysi (Linke) oder der in den Medien seit Wochen präsente Euro-Rebell Bernd Lucke von der neu gegründeten Partei Alternative für Deutschland.

Außerdem in der Runde: der bayerische Wahlkämpfer Florian Pronold (SPD) und Nicht-Politiker der talkshow-affine Börsen-Experte Dirk Müller. Die Regeln wie gehabt: Wer es schafft an diesem Sonntagabend über 50 Prozent der Zuschauerstimmen für sich zu gewinnen, bekommt 100.000 Euro.

Popstars im Vorteil

Dass Raabs Polit-Talk nichts mit den vertrauten Kräfteverhältnissen in der deutschen Politik zu tun hat, daran hat sich die Öffentlichkeit wohl inzwischen gewöhnt. Hier regiert nicht die Mitte, sondern Persönlichkeit und Sympathie. Tiefergehende Diskussionen sind die Ausnahme. Hier schaltet junges Publikum ein. Wer als Gast zu Raab kommt, dann weil er die Jungen auf anderem Wege nicht zu erreichen weiß.

Mit einer absoluten Mehrheit gewonnen hat mit Rapper Sido bisher nur ein Popstar. Manch einem schwante bereits Böses, als Raab nun auch Gregor Gysi als solchen ankündigte, nämlich als den Popstar der Linken. Sein Besuch warf durchaus spannende Fragen auf: Wie kommt so einer wie Gysi wohl an beim Sido-Publikum? Der Linken-Politiker ist witzig, schlagfertig und ein Unterhaltungsprofi, aber auch mittlerweile 65 alt und seit über 20 Jahren ein Stück deutscher Politik. Dass er am Ende mit 48,3 Prozent der Stimmen so deutlich vorne liegen würde, war zumindest nicht zwingend absehbar.

Drei Themen sind gesetzt

Drei Themen sind für den Talk gesetzt: Eurokrise, Bildungsgerechtigkeit und der Fall Hoeneß. Zudem kann Raab einen neuen Mann für die Zwischenanalysen vorstellen: Den Job von Peter Limbourg hat der Journalist Robin Alexander übernommen, Berlin-Korrespondent der "Welt". Mit pointierten und durchaus meinungsfreudigen Kommentaren erweist er sich als echte Bereicherung, auch wenn er eigentlich wegen seiner klaren Ansichten viel besser mit in die Runde vor ihm auf der Raabschen Couch gehören würde.

Mit Gysi rasselt Alexander einmal kräftig aneinander. Der nämlich fühlte sich von ihm diskriminiert. Mit körperlich rabiatem Einsatz setzte er sich sogar gegen die Beschwichtigungsversuche von Stefan Raab durch. "Immer gegen mich, typisch Springer", ereiferte sich Gysi.

Die spannendste Figur: Bernd Lucke

Es war eine typische Szene für die Sonntagsrunde. Oftmals ging es drunter und drüber. Vor allem Lucke erwies sich als Mann mit Hang zum penetranten Redebeitrag. Womöglich bestärkt durch eine lautstark johlende Anhängerschaft im Publikum redete er im Eiltempo selbst ausgebuffte Profis wie Niebel, Pronold oder Raab höchst selbst in Grund und Boden. Vor allem Niebel ärgerte das sichtlich. Selbst gegen einen Emporkömmling wie Lucke kann er sich nicht mehr durchsetzen.

Aus der Sicht politscher Beobachter war der Mann der Alternative für Deutschland sicherlich die interessanteste Figur. Ganz offensichtlich treibt ihn die Leidenschaft. Als er zum Einstieg in das Euro-Thema die ersten Sätze sprechen darf, kündigt er die mit den Worten "Zunächst einmal die Wahrheit" an. Der Euro sei nämlich gescheitert.

Buhrufe im Saal

Wieder treibt das Niebel auf die Palme. Er findet Luckes Ansage unerhört, das sei dreist zu behaupten, hier die einzige Wahrheit zu formulieren und alle anderen seien Lügner. Als er die Parlamentarier des Bundestages in Schutz nimmt, gibt es Buhrufe aus dem Publikum. Auch beim Fernseh-Publikum kommt das offensichtlich gut an. Lucke landet mit nahezu 40 Prozent auf Platz zwei.

Wie schon in früheren Ausgaben geht es mitunter wild und sinnfrei zu bei Raab, an diesem Abend vielleicht sogar mehr als sonst. Beispiel Eurothema. Was würde geschehen, schaffte man ihn wirklich wieder ab?

Gysi befürchtet eine Einbruch von Exporten, Arbeitslosigkeit und soziale Verwerfungen, Börsen-Experte Müller verwirft das als Ammenmärchen, einen Exporteinbruch werde es nicht geben, Pronold hält wiederum Müllers Ansichten für Quatsch und beruft sich auf die Einschätzungen eines Werksleiters aus Bayern und schreit abwechselnd mit Lucke oder Müller um die Wette. Zeitweise sind nur noch Wortfetzen zu verstehen. "Geschichte der Republik" ruft Niebel, "Arbeitsplätze nach China" Pronold, "Heul doch" Müller. Gysi — als einziger mit Krawatte - hat da längst wieder die Hände zusammengelegt und erhebt sich über das Chaos.

Raab kam nicht dazwischen

Selbst aus Raabs Sicht ist es ein ungewohnt emotionaler Schlagabtausch. Das hat auch er zu verantworten. Oftmals lässt er den laut ausgetragenen Kampf um das Redevorrecht zu lange andauern, seine Interventionen bleiben in der Regel folgenlos. Ihn scheinen ohnehin mehr die Gags zu interessieren. "Wie gefällt Ihnen unser Teppich? Haben wir extra festgetackert", begrüßt er Niebel.

Im Nachhaken oder Präzisieren hat der allgegenwärtige ProSieben-Moderator schon bessere Stunden erlebt. Er wird da nachbessern müssen. Gerade bei so komplizierten Themen wie Steuerhinterziehung oder Euro produziert eine solche aufgeheizte Gesprächsrunde mit all ihren makroökonomischen Theorien, Vorwürfen, Denkfehlern und Brüllereien nur noch mehr Fragezeichen auf.

Drei Lehren aus dem Abend

Dass nun am Ende Gysi so deutlich bei Raab gewinnt, verrät dreierlei. Zum einen ist der Mann ein Vollblut-Profi. Egal um welches Thema es geht, immer ärgert sich Gysi über irgendetwas. Das macht ihn nahbar, das macht ihn menschlich. Ihn ärgert, dass die kleinen Leute noch höhere Steuern zahlen müssen, wenn die Reichen ihre Steuern hinterziehen, ihn ärgert, dass die Kinder einer Alleinerziehenden nicht dieselben Chancen haben wie der Professorensohn, ihn ärgert, dass die Sparpakete zur Rettung des Euro und der Banken vor allem die Rentner und Krankenschwestern treffen.

Zweitens haben die Vertreter der etablierten Parteien, beziehungsweise des Establishments, mit ihrem Standard-Vokabular nicht den Hauch einer Chance. Am härtesten traf dieser Erkenntnis wohl den SPD-Mann Pronold. Er leierte sich Sätze aus dem Kreuz wie "Der Ehrliche darf nicht der Dumme sein" und flog nach der ersten Runde mit noch nicht mal fünf Prozent aus der Wertung. Niebel erging es wenig später nicht viel besser.

Drittens hat Raab tatsächlich Recht, wenn er behauptet, Gysi sei ein Popstar. Die nämlich verfügen über einen Grundstock an Beliebtheit, die sie über jedes Parteiprogramm erhebt. Auch auf die vorherigen Raab-Gewinner Wolfgang Kubicki und Sido trifft das zu. Witz, eine gewisse Coolness und eine gute Portion Selbstironie muss man insofern als echte Kerntugenden eines Politikers betrachten, wenn er denn populär werden will.

Ein Gysi-Gag zum Abschluss

Beispiele seines Könnens lieferte Gysi bei Raab reichlich ab. Eins der besten hob er sich für den Schluss auf: Als Raab seine Gäste in der Schlussrunde auffordert, "nicht dumm rumzulabern", entgegnet Gysi augenrollend: "Auch das noch. Aber ich bin doch Politiker."

(pst)
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