TV-Nachlese zu „Maybrit Illner“ Boris Palmer bricht eine Lanze für Kritiker der Corona-Maßnahmen

Düsseldorf · In der Talkrunde bei „Maybrit Illner“ ging es um die jüngsten Demonstrationen. Dabei bekam der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer auch Gelegenheit, sich zu seiner umstrittenen Aussage über alte Menschen zu äußern.

 Die Talkrunde bei Maybrit Illner am 14.05.2020.

Die Talkrunde bei Maybrit Illner am 14.05.2020.

Foto: ZDF

Am Donnerstagabend trafen fünf Gäste bei „Maybrit Illner“ zum Thema „Pandemie und Protest – kann Corona das Land spalten?“ aufeinander. Die waren sie sich auch nicht immer einig.

Die Gäste:

  • Christiane Woopen, Vorsitzende des Europäischen Ethikrats
  • Tobias Hans (CDU), Ministerpräsident des Saarlands
  • Boris Palmer (Grüne), Oberbürgermeister von Tübingen
  • Michael Meyer-Hermann, Infektionsforscher
  • Nikolaus Blome, Journalist

Darum ging’s:

Angesichts der Proteste Tausender Bürger gegen die Corona-Beschränkungen in verschiedenen Städten sollen die Talkgäste darüber sprechen, ob das Krisenmanagement angemessen war.

Darum ging’s eigentlich:

Um Verantwortung – für politische Entscheidungen, umstrittene Äußerungen, aber vor allem, wie sich besonders gegen Ende herausstellt: um die Verantwortung für andere Menschen.

Der Talkverlauf:

Zu Beginn der Sendung soll die Talkrunde der Frage nachgehen: Wer demonstriert da eigentlich? Die Gäste sind sich darin einig, dass dort zwar Verschwörungstheoretiker, Verfassungsfeinde und Verrückte am lautesten in Erscheinung treten, aber auch viele Menschen teilnehmen, die einfach Fragen haben. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer kritisiert, dass diese Menschen bislang kaum Medienaufmerksamkeit bekommen haben. Schon in der harten Phase des Shutdowns habe es eine „Gegenöffentlichkeit“ gegeben, die Videos von zweifelhaften Quellen anschaute. „Wir sind dabei, ähnliche Fehler wie 2015 zu machen, als eine moralisierende Alternativlosigkeit postuliert wurde“, so Palmer.

Im Streit um Sinn und Unsinn der Maßnahmen soll der Forscher Michael Meyer-Hermann Klartext reden. Schließlich hat sein Team am Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung gemeinsam mit dem Ifo-Institut eine Studie zu den wirtschaftlichen Folgen von Lockerungsmaßnahmen erstellt. Ein Ergebnis: Es gibt offenbar einen optimalen Punkt auf der Bandbreite zwischen schneller Öffnung und harten Maßnahmen wie etwa in Frankreich. „Je mehr wir lockern, desto länger bleibt die Phase der leichten Unterdrückung der Wirtschaft“, so Meyer-Hermann. Das Gefühl, die Maßnahmen richteten sich gegen die Menschen, sieht Meyer-Hermann als Missverständnis: Gerade Menschen an der Existenzgrenze brauchten eine Welt, in der das Virus so weit zurückgedrängt ist, dass „wir keine Angst mehr haben müssen“.

Neben den wirtschaftlichen Schäden für Bürger und Unternehmen stehen in der Sendung die Altenheime im Fokus – wegen Boris Palmer. Jener hatte unlängst Morddrohung bekommen wegen seiner Aussage: „Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“

Dafür entschuldigt sich Palmer nun. Er habe in einem Live-Interview „einen dummen Satz gesagt“. Obendrein erklärt er die Aussage mit der Sorge um armutsbedrohte Kinder vor allem in Entwicklungsländern, deren Leben durch die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns bedroht sei.

Auf der politischen Idee hinter seiner umstrittenen Aussage beharrt Palmer jedoch: Statt Infektionszahlen zu drücken will er die schweren Erkrankungen vermeiden. Konkret: Schutzmaßnahmen gezielt auf Risikogruppen anwenden, vor allem auf alte Menschen. Dabei bleibt er auch, nachdem Meyer-Hermann ihm die Grundlage für diese Idee entzieht.

Mehr Tests in Altenheimen seien sicher sinnvoll, räumt der Infektionsforscher ein. Aber Palmers Behauptung, die an Covid-19 gestorbenen Menschen hätten ohnehin nur noch wenige Monate zu leben gehabt, sei eine Falschinformation. In Wahrheit hätten diese einer Untersuchung in Deutschland zufolge durchschnittlich noch neun Jahre gelebt.

„Das halte ich für falsch“, wendet Palmer ein, doch Meyer-Hermann kontert: „Wir reden hier nicht über Meinungen, sondern über wissenschaftliche Fakten.“ Schließlich hievt Christiane Woopen den Streit auf eine ethische Ebene: „Ist es denn überhaupt relevant, wie lange die Menschen gelebt hätten?“, fragt die Vorsitzende des Europäischen Ethikrats und verweist darauf, dass die Würde des Menschen in der Verfassung an erster Stelle steht. Nach möglicher Lebensdauer zu entscheiden, passe in andere Kulturkreise, aber nicht nach Deutschland.

Woopen wundert sich zudem, dass „noch nach Wochen über das Beschützen von Alten gesprochen wird, statt sie in ihrer Selbstbestimmung und ihrer Freiheit wahrzunehmen“. Schließlich seien längst nicht alle alten Menschen dement und könnten ebenso wie viele Pflegebedürftige selbst entscheiden, ob sie das Risiko einer Erkrankung in Kauf nehmen wollen. Allerdings betreffe diese Entscheidung dann auch andere. Wenn dann jemand stirbt und vermutet werden muss, dass der Neffe oder Enkel diese Person angesteckt habe, müsse man damit leben können. „Dieses Risiko muss in der Familie besprochen werden“, rät Woopen. Verantwortung trage im Übrigen angesichts der Ansteckungsgefahr jeder – egal, welcher Auffassung er ist.

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