WM-Talk bei „Lanz“ „So ist Profifußball heute“

Hamburg · Menschenrechtsverletzungen und Todesfälle beim Stadionbau veranlassen seit Jahren Diskussionen über Katar als Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft 2022 – und einen Monat vor WM-Beginn auch bei „Lanz“.

Die Talkrunde bei „Markus Lanz“ am 19. Oktober 2022.

Die Talkrunde bei „Markus Lanz“ am 19. Oktober 2022.

Foto: ZDF

Einen Monat vor Beginn der Herren-Fußballweltmeisterschaft in Katar diskutieren bei „Markus Lanz“ am Mittwochabend Experten für den Sport – und für den Austragungsort Katar.

Die Gäste:

  • Marcel Reif, Fußballkommentator
  • Lena Cassel, Sportjournalistin
  • Sebastian Sons, Islamwissenschaftler
  • Andreas Rettig, Fußballfunktionär

Darum ging’s:

Um moderne Sklaverei, Menschenrechte, den Geist des Fußballs und fragwürdige Geschäftsmodelle.

Der Talkverlauf:

An den Anfang stellt Moderator Markus Lanz die Gretchenfrage: Wie hältst du es mit einer Reise nach Katar oder mit dem Fußballgucken zur WM? Für den altgedienten Sportkommentator Marcel Reif kommt eine Reise nach Katar nicht in Frage – allerdings nicht aus moralischen, sondern aus beruflichen Gründen. Genau jene werden den Islamwissenschaftler Sebastian Sons zur Fußballweltmeisterschaft nach Katar führen. Er bereist seit 12 Jahren regelmäßig die Golfstaaten zu Forschungszwecken.

Fußballfunktionär Andreas Rettig hingegen bekundet, zum Eröffnungsspiel an einer Gegenveranstaltung in einer Kölner Kneipe teilzunehmen. Fußball werde dabei nicht geschaut, versichert er. Allerdings räumt der Ex-Geschäftsführer der „Deutschen Fußball Liga“ (DFL) ein, dass er seinen Boykott wohl nicht komplett durchziehen werde. „Ich bekenne mich schuldig, dass meine Fußballleidenschaft größer sein wird als die Vernunft“, sagt er. Die Spiele der deutschen Fußballnationalmannschaft werde er sich anschauen. Doch selbst eine etwaige Beteiligung Deutschlands im Finale werde ihn nicht zu einer Reise nach Katar bewegen, obwohl er eine Einladung habe. „Dass ich mir Fußball in Katar anschaue, also soweit geht die Fußballiebe nicht.“

Die Sportjournalistin Lena Cassel indes findet: „Wegsehen - das ist mir zu wenig. Ich will einen lauten Protest machen.“ Sie will weiterhin auf Missstände aufmerksam machen, Spenden sammeln und zum Finden eines „Entschädigungsmechanismus“ beitragen.

Im Gegensatz zu Rettig bezweifelt Reif, dass TV-Boykotte sich auf das Sponsoring auswirken könnten. Rettig wiederum zeigt sich kritisch gegenüber Reifs Hoffnung, eine Weltmeisterschaft an sich könne zu Veränderungen führen. „Mir ist kein sportliches Großereignis bekannt, das gesellschaftliche Missstände im Nachgang abgestellt hat oder wo es zu Verbesserungen gekommen ist.“

Rettig kritisiert die Fifa für ihren Vergabeprozess und bemängelt, dass keinerlei Menschenrechtsvorgaben an eine Ausrichtung der WM gebunden worden seien. An diesem Punkt stellt Lanz aus unerfindlichen Gründen Rettigs Kritik mit dem Verweis darauf infrage, dass der Fußballfunktionär noch niemals selbst nach Katar gereist sei. „Die Zahlen und Fakten sind ja relativ klar, was soll ich in Katar?“, fragt Rettig und schiebt ketzerisch hinterher: „Herr Beckenbauer hat auch keine Sklaven gesehen.“

Doch Lanz scheint sich an der Frage der Glaubwürdigkeit von Rettigs Kritik festgebissen zu haben. Als er in diesem Zusammenhang nachhakt, wie viele Tote es denn nach Rettigs Meinung beim Stadionbau in Katar gegeben habe, schaltet sich schließlich Reif ein. Er warnt davor, irgendwelche Zahlen zum Gradmesser dafür zu nehmen, wie wichtig das Thema sei. „Jeder Tote ist einer zu viel.“ Der Wissenschaftler Sons fügt hinzu: „Die Diskussion um die Anzahl der Todesopfer geht in eine falsche oder unpräzise Richtung.“

Lanz lässt sich davon aber nicht beirren. „Sie haben viel Zeit dort verbracht“, sagt er zu Sons und fordert ihn auf, Zahlen zu nennen. Dem Islamwissenschaftler bleibt nichts anderes übrig, als sich zu wiederholen. „Die Frage, wie viele Menschen tatsächlich gestorben sind, lässt sich seriös nicht beantworten.“ Daten der Regierung von Katar etwa gäben keinen Einblick in die zentrale Frage der Todesursache. Und etwas anderes sei ohnehin viel wichtiger: Katar sei das Symptom eines globalen Problems. „Es geht darum, dass wir bei Ausbeutung von Arbeitsmigranten über ein globales, strukturelles Problem sprechen.“ Menschenrechtsorganisationen sprächen von moderner Sklaverei.

Nach dem sogenannten Kafala-System, so Sons, würden Migranten in Katar fest an einen Einheimischen gebunden werden, der weitreichend über sie bestimmen kann. Dieses Prinzip gehe auf ein beduinisches Gewohnheitsrecht zurück, das ursprünglich für den Schutz von Gästen gesorgt habe, erklärt der Islamwissenschaftler. Heute allerdings profitierten davon viele Menschen, die damit „wahnsinnig viel Geld verdienen“. Dazu gehöre auch die Zwangsverschuldung bei kriminellen Organisationen, die diese Menschen erst nach Katar, Saudi-Arabien oder andere Länder bringen.

Sons gibt zu bedenken, dass die Herkunftsländer der Migranten sehr arm sind und zum Teil auf das Einkommen – und die Rücküberweisungen – solcher Migranten setzen. Bei Nepal etwa mache das ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts aus. „Wenn Flucht aus der Armut nicht mehr stattfände, wären diese Länder pleite“, sagt Sons. Die Kritik an der WM in Katar sei wichtig, um den Blick auf diese strukturellen Probleme zu lenken. „Das ist ein Problem von einer kapitalistischen Gesellschaft, das nicht schönzureden ist.“

Katar - Land zwischen Tradition und Moderne
8 Bilder

Katar - Land zwischen Tradition und Moderne

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Die Sportjournalistin Cassel wählt einen neuen Blickwinkel: Sie spricht von der „Wirkmacht des Fußballs“, die sich bei einer Weltmeisterschaft offenbare. „Wer hätte denn gedacht, dass Deutschland einmal für ein weltoffenes, fröhliches, multikulturelles Land steht? Das hat die WM 2006 geschafft“, sagt sie. Sie erzählt, wofür Fußball in ihren Augen stehe, wie sie mit dem Gefühl aufgewachsen sei, Fußball sei für alle da. Bei der kommenden Fußball-WM hätte es Cassels Ansicht nach auch darum gehen müssen, diese Werte zu verteidigen. „Was da jetzt in Katar passiert, konterkariert alles, was der Kern des Fußballs eigentlich – für mich persönlich – ausstrahlt.“

Sons nimmt unterdessen die Folgen der Aufmerksamkeit auseinander, die durch die WM auf Katar fällt. „Aufgrund des Drucks, der wegen der WM auf Katar ausgeübt wird, ist ein kleines Land gezwungen, sich stärker mit der internationalen Kritik auseinanderzusetzen“, sagt der Islamwissenschaftler. Aber: „Das heißt nicht, dass die Reformen, die es auf dem Papier gab, umgesetzt werden.“ Den Grund dafür sieht er darin, dass dahinter ein „Riesengeschäftsmodell“ steckt. Allerdings findet Sons auch, dass die WM-Bewerbung für Katar in gewisser Weise „nach hinten losgegangen“ sei. Weil nun Aufmerksamkeit auf Arbeitsbedingungen und Menschenrechte gerichtet sei, habe die Regierung des Landes neue Gesetze erlassen – vor allem auf WM-Baustellen bezogen. Eines sei aber zu bedenken: „Katar ist ein autokratisches System“, betont Sons.

Rettig stellt die Frage, wer in Katar denn überhaupt ein echtes Interesse an Reformen habe. „Der Sport hat nicht die Kraft, Gesellschaft zu verändern“, sagt er mit Blick auf das WM-Ausrichterland von der Größe Schleswig-Holsteins, in dem 300.000 wohlhabende Einwohner rund 1,8 Millionen Migranten gegenüberstehen, die unter den kritisierten unmenschlichen Bedingungen leben und arbeiten müssen.

Cassel spricht schließlich an, was Lanz zu Beginn der Sendung über Rettig gesagt hatte: Jener habe im Streit um Katar eine „fernmündliche Kollision mit Uli Hoeneß“ erlebt, in dem ihm der Funktionär des FC Bayern München Scheinheiligkeit vorwarf. Die Sportjournalistin spielt den Ball zurück: „Ich finde es scheinheilig, dass man sich auf der einen Seite das Geld aus Katar in die Taschen steckt, auf der anderen Seite aber scheinbar für Werte wie Vielfalt steht“, sagt sie.

Für die Interessen Katars an Aufmerksamkeit aus aller Welt zeigt sie Verständnis, fragt aber sogleich nach dem anderen Ende der Gleichung: „Was hat Katar dem Weltsport und dem Fußball gebracht?“ Die Sportjournalistin findet als Antwort bislang nur „sehr viele Tote“. Kommentator Reif glaubt indes, unter dieser Prämisse könnten nur noch drei oder vier Länder eine WM austragen – obwohl er einräumt, dass der zugrunde liegende Standard richtig und gut wäre.

Dann beginnt Reif einen Vortrag über eine Art Realpolitik des Fußballs am Beispiel des FC Bayern München, der von Katar gesponsert wird. Der Verein sei auch ein Wirtschaftsunternehmen, es ginge nicht nur um den reinen Fußball. „Wenn du die Mitglieder fragst, wären die kein deutscher Meister oder Champions League-Sieger, das wirst du ohne Geld nicht schaffen, so ist Profifußball heute“, sagt Reif. „Der Fußball selber, der reine, schöne Fußball, ob es den noch gibt in den Sphären, wage ich zu bezweifeln.“

Gegen Ende schaltet sich Rettig noch einmal mit Unglauben ein. „Das IOC und die Fifa sind in der Lage, Steuerprivilegien für ihre Veranstaltungen zu verhandeln, aber sie vergessen die Umsetzung von Menschenrechten?“ Eine Branche wie der Sport verdiene sein Geld mit und durch die Öffentlichkeit und brauche gesellschaftliche Akzeptanz, konstatiert Rettig. „Und wenn die wegbricht, verdienen wir kein Geld mehr und haben auch keine Existenzberechtigung mehr.“

(peng)
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