TV-Nachlese zu „Lanz“ „Man muss offen darüber sprechen können, dass wir keine Gewaltexplosion bei Migranten haben“
Hamburg · Gewalt ist das Thema bei „Markus Lanz“ am Mittwochabend. Oder doch eher Migration? Beherzt setzen sich mehrere Talkgäste dafür ein, dass beide Themen nicht vermengt werden und dennoch offen diskutiert wird.
Bei „Markus Lanz“ sitzen am Mittwochabend gleich drei Rechtsgelehrte und ein Autor im Studio.
Die Gäste:
- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Ex-Justizministerin
- Andrea Titz, Die Vorsitzende des Deutschen Richterbundes
- Gregor Peter Schmitz, Journalist und Jurist
- Hamed Abdel-Samad, Autor und Politikwissenschaftler
Darum ging’s:
Um Gewaltverbrechen in Deutschland.
Der Talkverlauf:
Gleich zu Beginn geht es bei „Markus Lanz“ um den tödlichen Messerangriff in einem Zug bei Brokstedt. Ex-Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) bekundet, natürlich sei man erst einmal erschüttert, aber das sei ja nicht alles, und deshalb gebe es auch so viele Fragen. „Wir wissen nicht alles über den Täter, der jetzt wieder in Haft sitzt“, sagt sie, und Moderator Markus Lanz hakt sogleich ein. Er ist der Ansicht, man wisse sehr viel über den Mann. Und so folgt der Talk dem Muster, das Meinungen über Fakten stellt.
Leutheusser-Schnarrenberger meint, dass ein Angriff des Täters im Gefängnis eine Haftverlängerung gerechtfertigt hätte. Zudem kritisiert sie, dass dem Mann bei seiner Entlassung trotz des Vorfalls niemand zur Seite gestellt worden sei, obwohl es in Hamburg ein Programm zum Risikomanagement gebe, und nicht einmal der Anwalt Bescheid wusste.
Die Ex-Justizministerin hebt hervor, dass der Täter obdachlos und ohne Bezugspunkte gewesen sei. „Da sehe ich die ersten Punkte, mit denen man sich befassen muss, um so etwas künftig zu verhindern“, sagt sie mit Blick auf die viel stärker diskutierten Themen Migration und Abschiebung.
Als Moderator Markus Lanz fragt, wie denn ein „an die Seite stellen“ aussehen sollte, wirkt die FDP-Politikerin ein wenig ungeduldig. „Ja das kennt man doch“, sagt sie und nennt sozialpsychiatrische Dienste sowie länderspezifische Möglichkeiten, Bedingungen bei der Haftentlassung zu stellen, beispielsweise die Pflicht zur Meldung bei bestimmten Einrichtungen.
Die Richterin Andrea Titz führt das Gespräch zurück zu den Fakten. „Unser aller Problem ist, dass wir alle nur einzelne Bruchstücke des Gesamtsachverhalts bisher kennen“, sagt die Vorsitzende des Deutschen Richterbunds. Dabei weist sie auch auf die Quelle dieses Wissens hin: mediale Berichterstattung, nicht etwa Ermittlungsakten. Daher hält sie es nicht für seriös, derzeit eine Einschätzung abzugeben, was wann hätte geschehen müssen.
Lanz lobt dieses Haltung: So funktioniere ein Rechtsstaat. Und trotzdem sehe er die beiden noch nicht zu Wort gekommenen Gäste unruhig herumrutschen. Einer der beiden, „Stern“-Chefredakteur Gregor Peter Schmitz, gibt allerdings zu Protokoll, dass er Titz‘ Haltung teilt. Er kritisiert den „reflexhaften Ruf nach Strafe“. Dem sei man in Bezug auf Angriffe auf Feuerwehr und Polizei nachgekommen mit einer Strafmaßverschärfung und dem Ergebnis: „Es hat sogar noch mehr Angriffe gegeben.“ Deshalb käme es vielmehr darauf an, dass der Rechtsstaat handlungsfähig bleibe mit rasch einsetzenden Ermittlungen und zügigen Urteilen. „Deswegen sind die Forderungen nach mehr Richterinnen und Richtern berechtigt“, sagt der Journalist mit juristischem Bildungshintergrund.
Der islamkritische Autor Hamed Abdel-Samad geht direkt zu seiner Kritik über: „Politisch passiert nichts, weil die Debatte über den Zusammenhang von Flüchtlingspolitik, Migrationspolitik und Gewalt in diesem Land tabuisiert wird.“ Daraufhin führt er eine Liste von Dingen nach, über die seiner Ansicht nach nicht gesprochen werden darf. Beispielsweise behauptet Abdel-Samad, im Wahljahr 2017 sei der Bevölkerung eine Debatte über Migration untersagt worden. Wer das denn verboten habe und wie die Durchsetzung funktioniert haben soll, erklärt Abdel-Samad nicht. Danach fragt allerdings auch niemand. Der Autor und Politikwissenschaftler spricht munter weiter, bis er behauptet, es habe seit 2018 keine Talkshows mehr zum Thema Migration oder Islam gegeben. Da regt sich dann doch Widerspruch von Seiten des Moderators.
Zwar hinterfragt Lanz nicht, wie Abdel-Samad sich dieses „Verbot“ praktisch vorstellt. Aber er verwehrt sich gegen alles, das den Eindruck erweckt, eine geheimnisvolle dunkle Kraft würde Talkshows ihre Inhalte vorschreiben. „Uns schreibt niemand vor, worüber wir zu reden haben“, stellt Lanz klar. Dann fügt er beinahe sanftmütig hinzu: „Aber das hat Herr Abdel-Samad nicht gemeint.“ Der allerdings schiebt den Vorwurf der „Selbstzensur“ hinterher.
Nun schaltet sich der Journalist Schmitz ein und öffnet die Tür zu einem Ausweg aus dem fruchtlosen Hin und Her: „Ich finde, dass die Debatten oft falsch geführt werden.“ Wenn man wirklich an einer Debatte über das wichtige Thema Migration interessiert sei, dann könne man diese nicht mit einem Totschlagargument beginnen. Das würde die Debatte abwürgen – „und in der Tat: Auf dem Niveau wollen wir nicht diskutieren“.
Als Beispiel nimmt Schmitz eine abfällige Äußerung des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz über Migrantenkinder in einer früheren „Lanz“-Sendung. „Friedrich Merz hält sich ja für einen sehr guten Rhetoriker. Es ist erstaunlich, wie ungeschickt er oft agiert, wenn er ein Thema anstoßen will.“ Auch wenn beispielsweise jemand – wie Merz – Greta Thunberg „gestört“ oder „krank“ nenne, könne keine ernsthafte Debatte über Vor- und Nachteile von Klimapolitik aufkommen.
Statt sich in den Talkshow-üblichen Meckerreigen einzureihen, stellt Schmitz auch dar, was er sich als bessere Art der Debatte vorstellt. Natürlich müsse man über Probleme mit Integration sprechen, über Fragen wie etwa jene, ob Bildung in manchen Bevölkerungsgruppen als erstrebenswertes Ziel gelte und so fort, und man müsse daraus lernen, was es zu verbessern gilt. Zum Beispiel weist Schmitz kritisch darauf hin, dass von den 300.000 im Koalitionsvertrag vereinbarten Abschiebungen bislang nur wenige Prozent durchgeführt worden seien.
„Gleichzeitig muss man aber auch offen darüber sprechen können, dass wir keine Gewaltexplosion bei Migranten haben und auch nicht insgesamt in Deutschland“, sagt Schmitz. Der Journalist verweist an diesem Punkt auf Statistiken. Und: „Und ehrlicherweise müsste diese Debatte auch aus den Gruppen selbst entstehen.“
Ehe nun aber unangenehme Fragen zur Gästeauswahl in Talkshows aufkommen, führt Lanz das Gespräch auf Politiker zurück. Daraufhin werden Aussagen der nicht anwesenden Innenministerin Nancy Faeser interpretiert und das muntere Fingerzeigen zwischen verschiedenen Institutionen ausführlich besprochen. Zwischendurch gibt es ein paar Sätze aus dem Lehrbuch wie „Herkunft allein macht keine Täter“ und „Sozialpolitik ist die beste Kriminalpolitik“ (beides Schmitz), die aber weitgehend undiskutiert verhallen.
Ebensowenig macht irgendjemand Anstalten zur Debatte, als der Autor Abdel-Samad seine Forderungen nach härterem Durchgreifen damit untermauern will, dass in Dubai Flüchtlinge bei Silvesterfeiern nicht gewalttätig werden. Dubai ist ein Emirat, dessen Rechtssystem sich an der islamischen Scharia orientiert und unter anderem Alkoholkonsum und Homosexualität hart bestraft. Abdel-Samad räumt selbst ein: „Man könnte sagen, okay, das sind keine demokratischen Staaten.“
Später kommt die Richterin Titz dann einmal zu Wort. Sie wehrt sich entschieden gegen Abdel-Samads Vorwurf gegen die deutsche Justiz. „Die Justiz greift selbstverständlich hart durch, wann immer es ihr möglich ist“, sagt sie. Dazu gebe es die entsprechenden Gesetze und Instrumentarien. Zudem stellt Titz klar: „Zum Glück haben wir keine politische Vorgabe, welche Straftaten wir wie hart oder nicht hart verfolgen. Die Justiz ist unabhängig, und das ist das höchste Gut, das man in einem Rechtsstaat haben kann.“
Bald darauf muss Titz dann auch noch erklären, wie Strafverfolgung in einem Rechtsstaat funktioniert. „Wir müssen einen Tatnachweis führen“, sagt sie im Zusammenhang mit einer Diskussion über die Verfolgung von Anzeigen nach der sogenannten „Kölner Silvesternacht“. Schließlich warnt Leutheusser-Schnarrenberger vor den dahinterstehenden gedanklichen Verbindungen. „Nun vermengen wir das mal nicht so, als ob alle Flüchtlinge von 2014, 2015, 2016 jetzt tendenziell alle mal straffällig würden.“
Die Richterin Titz referiert, dass die Anzahl der Gewaltverbrechen in Deutschland sogar rückläufig sei. Gerade unter Jugendlichen ginge die Gewalt stark zurück. Die Vorsitzende des Deutschen Richterbunds räumt ein, dass manche Einzeltaten besonders auffielen. Aber: „Man muss das Anekdotische trennen von der tatsächlichen Evidenz“, sagt sie. Das heiße nicht, dass der einzelne Fall nicht schnell und hart verfolgt würde. Gleichzeitig sprechen die Gäste den steigenden Anteil von Asylsuchenden an dieser Statistik und von Gewalt innerhalb von Migrantengruppen an.
Dann geht es um die Feinheiten der Strafverfolgung. Bei Amtsgerichten dauere es knapp sechs Monate und bei Landgerichten gut acht Monate, bis nach einer Straftat eine Anklage folge, zitiert Titz aus den Statistiken von 2021. Sie berichtet auch äußerst kritisch davon, dass es durch die Überlastung der deutschen Justiz unter anderem zu Haftentlassungen kommt. Das führe zu einem Vertrauensverlust in der Bevölkerung.
Gerade als Abdel-Samad interessante Fragen zur Durchsetzung von Grundsätzen aus dem deutschen Grundgesetz stellt – etwa zur Abwägung des Tierschutzgesetzes gegen die religiösen Riten der Schächtung in jüdischen und muslimischen Gemeinden – schwenkt Lanz um und fragt erneut nach Palästina. Diesmal will er über einen möglichen Tauschhandel nach dem Muster „Straftäterrücknahme gegen Entwicklungshilfe“ sprechen. Leutheusser-Schnarrenberger sieht einen Knackpunkt darin, dass die Politik klar definieren und erklären müsse, was sie noch für verantwortbar halte und wo die Grenzen lägen. Gute Frage! Schmitz zum Beispiel bezweifelt, dass die Türkei ein gutes Vorbild für Abschiebepolitik abgibt. Abdel-Samad wiederum hält es für in Ordnung, Menschen nach Syrien abzuschieben.