Talkshow „Markus Lanz“ „In Deutschland haben die reichsten fünf Prozent so viel wie der ganze Rest“

Düsseldorf · Die Kinder sollen es einmal besser haben: Das sei die bescheidene Variante des American Dream, sagt Julia Friedrichs. Warum dieser Traum nur noch selten wahr wird, diskutiert sie bei „Lanz“.

 Die Talkrunde bei „Lanz“ am 29.6.2021.

Die Talkrunde bei „Lanz“ am 29.6.2021.

Foto: ZDF

Am Dienstagabend drehte sich der Talk bei „Markus Lanz“ in weiten Teilen um Bildung und Einkommen. Wir haben uns auf den Diskussionteil über die Ursachen und Folgen von mangelnder Chancengleichheit konzentriert, bei dem die Autorin Julia Friedrichs und der Soziologe Harald Welzer im Fokus standen.

 Die Gäste:

  • Julia Friedrichs, Autorin
  • Harald Welzer, Soziologe
  • Verena Pausder, Vorsitzende des Vereins „Digitale Bildung für Alle“
  • Susanne Schreiber, Biophysikerin

 Darum ging’s:

Um Bildungszugang, Vermögensgefälle und um organisierte Unverantwortlichkeit.

 Der Talkverlauf:

„Wir nennen uns Wissensgesellschaft. Es kann doch nicht sein, dass Leute keine Chance haben, in dieses System hineinzukommen“, poltert der Soziologe Harald Welzer. Er beklagt ein „extrem ungleiches Bildungssystem“ in Deutschland, in dem Menschen aus akademischen Elternhäusern viele Chancen hätten, auch zu studieren und entsprechende Karrieren zu machen – während das bei Menschen „randständigeren Verhältnissen“ die Ausnahme sei.

Aus diesem Blickwinkel heraus kritisiert die Autorin Julia Friedrichs, dass Familien in der Coronakrise plötzlich mit dem Unterrichten der Kinder konfrontiert wurden. „Wenn man sagt ‚Seht zu, wie ihr klarkommt‘, dann wirft man Menschen sehr stark auf bestehende Ungleichheiten zurück“, sagt Friedrichs. Das zeige sich etwa darin, welche Familien die entsprechenden Geräte für Digitalunterricht hatten, wo genug Platz zum Lernen war, und so fort.

Welzer soll erklären, warum unkonventionelle Lösungen in Deutschland so wenige Chancen haben. Der Soziologe zitiert dazu das Prinzip der organisierten Unverantwortlichkeit. In einer hoch arbeitsteiligen Gesellschaft sei der Einzelne nur für einen schmalen Ausschnitt verantwortlich. Und sobald eine Entscheidung eine große Tragweite zu haben drohe, versuche man, eine Nicht-Entscheidung zu wählen. „Denn sonst sagt hinterher jemand in einer Talkshow: Warum hast du das gemacht?“

„Eigentlich bräuchten wir eine Verantwortungsübernahmefähigkeitsprüfung“, sagt die Biophysikerin Susanne Schreiber. Jene fehlt ihr etwa bei der Empfehlung der Ständigen Impfkommission zur Corona-Impfung von Kindern. „Mut wird nicht belohnt“, sagt die Unternehmerin Verena Pausder. Sie findet, in den Schulen müsse man sich in Bezug auf neue Bildungsformen etwas trauen.

Ideen wie freies Lernen klingen toll, sagt Friedrichs. Und dann lenkt sie den Blick von der Theorie in die Praxis. Für viele Kinder gehe es darum, lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Und verlässliche Strukturen seien unerlässlich für jene, die sozial keinen leichten Start hätten. „Sonst haben wir Menschen, die nicht in der Lage sind, selbstbestimmt ihr Leben zu führen.“

Gegen Ende der Talkshow wird klar, dass dieses Thema recht viele Menschen in Deutschland direkt betrifft. „In Deutschland haben die reichsten fünf Prozent so viel wie der ganze Rest“, sagt Friedrichs. Ein Viertel der Deutschen könne eine spontane Ausgabe von 1000 Euro nicht stemmen. „Wenn wir alle Mieter in Deutschland in eine Reihe stellen, hat der Mittlere ein Vermögen von 5000 Euro“, berichtet Friedrichs. Und keine Rücklagen zu haben, mache verletzlich. Die Einführung des Mindestlohns habe zwar für die unteren 30 Prozent der Lohnempfänger etwas bewegt. Aber er sei so niedrig, dass Menschen mit Familie trotz 40-Stunden-Woche davon nicht leben könnten, ohne „zum Amt zu gehen“.

Hinter dieser Entwicklung verortet Friedrichs unter anderem die stagnierenden oder sogar sinkenden Löhne in den unteren Lohngruppen nach den 1980er Jahren und das Outsourcing von Jobs. Damit gäbe es keine Gelegenheit mehr, sich hochzuarbeiten. „Im Dienstleistungsbereich, quasi dem Kernland der ‚working class‘, erleben viele das Wegschieben von Verantwortung.“ Als Beispiel nennt Friedrichs einen U-Bahn-Reiniger, der sein Ticket bezahlen muss. Die Verkehrsbetriebe hätten ihr auf Anfrage dazu gesagt, die Ticketfrage sei eine Entscheidung der Firma, die den Mann beschäftige. Schon lange wird diese Arbeit nicht mehr von Festangestellten der Verkehrsbetriebe in jener Stadt geleistet. Friedrich sorgt sich um die Folgen dieses Mangels an Respekt. „Wir müssen das Versprechen wieder glaubhaft machen: Es kommt darauf an, was du machst. Und nicht, was deine Eltern machen.“

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