TV-Nachlese zu „Lanz“ „90 Prozent aller Geflüchteten weltweit finden nicht in Industriestaaten Zuflucht“
Hamburg · Merz-Diagnose, Reallohn und der Moment, in dem die CDU mit der Abschaffung des individuellen Asylrechts spielt: Bei „Lanz“ geht es am Donnerstagabend dank zweier Expertinnen plötzlich um grundsätzliche Fragen.
Am Donnerstagabend geht es bei „Markus Lanz“ um politische Fragen von Wirtschaft bis Migration.
Die Gäste:
- Judith Kohlenberger, Migrationsexpertin von der Wirtschaftsuniversität Wien
- Thorsten Frei, CDU-Politiker
- Philippa Sigl-Glöckner, Ökonomin bei der Denkfabrik „Dezernat Zukunft“
- Michael Bröcker, Journalist
Der Talkverlauf:
Zuerst einmal geht es um die Frage, wer alles auf Bundeskanzler Olaf Scholz sauer ist. Moderator Markus Lanz und zwei seiner Gäste, der Journalist Michael Bröcker und der Oppositionspolitiker Thorsten Frei (CDU) sprechen vom Streit zwischen Regierung und Opposition, innerhalb der Koalition, zwischen Bund und Ländern – Hauptsache Ärger. Unterm Strich stehen dann Bemerkungen wie diese von Bröcker: „Olaf Scholz hat ein Problem, weil sein Stil kein einladender ist, er weiß ja ohnehin alles besser, und das meistens dann auch noch zu spät.“
Kommunikationsschwäche diagnostiziert der Journalist auch beim ebenfalls nicht anwesenden CDU-Parteivorsitzenden Friedrich Merz. Anlass ist dessen Äußerung, das bayrische Gillamoos sei Deutschland und nicht Berlin-Kreuzberg. „Er kriegt es nicht hin, Dinge zu sagen so wie Sie sie gerade gesagt haben“, sagt der Journalist an den CDU-Politiker Frei gewandt, Frei, der als Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion als die Nummer Zwei in seiner Partei gilt.
Natürlich sei es gesellschaftspolitisch sinnvoll, ein Selbstbestimmungsgesetz zu machen, vielleicht könne man auch eine Cannabis-Legalisierung machen, aber die drängenden politischen Themen seien Wohnungslosigkeit, Migration und Wohlstand. „Das kann man doch alles sagen, ohne auszugrenzen“, sagt Bröcker. „Warum muss dieser Mann bei jedem Auftritt irgendwelche Gruppen oder Städte oder gesellschaftliche Bewegungen ausgrenzen?“
Bröcker stellt die These auf, Merz versage deshalb mit seiner Art der Kommunikation, weil er zu lange aus der Politik weggewesen ist. „Wir sind hier nicht bei McKinsey. Da kannst du mal eben einen raushauen, und dann kriegst du Applaus, weil du der CEO bist.“ Frei hingegen sieht Merz ganz im Rahmen der seiner Ansicht nach in der Politik üblichen Zuspitzungen.
Die österreichische Migrationsforscherin Judith Kohlenberger vermutet hinter Merz‘ „Kreuzberg“-Äußerung indes ein Muster, das ihr zufolge in Österreich häufig zu beobachten sei: „Wir und die anderen. Wer gehört dazu, und wer nicht.“ Kohlenberger merkt an, dass Themen wie ein Gesetz zur Änderung des Geschlechts Minderheitenschutz seien. Und Minderheitenschutz sei etwas, worauf sich ein demokratischer Rechtsstaat verständigt hat und worunter die Mehrheit nicht leidet.
Stattdessen würden Spalt- und Konfliktlinien gezogen, wo es gar nicht nötig sei. „Ich denke, es ist derzeit gesellschaftlich und geopolitisch eine sehr fragile Zeit, wo es höchst an der Zeit wäre, dass nicht nur Regierungspolitiker, sondern auch Oppositionspolitiker ihrer Verantwortung gerecht werden und nicht zusätzlich noch in diese Spaltung einzahlen“, sagt die Migrationsforscherin. Damit ließen sich zwar billig Wählerstimmen gewinnen, aber langfristig könne es den Zusammenhalt und auch den Wohlstand eines Landes aufs Spiel setzen.
Als das Gespräch auf Wirtschaftspolitik kommt, torpediert der CDU-Politiker Frei die Energiepolitik der Bundesregierung und schließt sich gleichzeitig der FPD-Forderung nach einer Senkung der Stromsteuer an. Es solle niemand bevorzugt werden, argumentiert Frei. „Da haben Sie ein Problem: Die stromintensiven Unternehmen zahlen die heute schon nicht, das heißt, denen helfen Sie nicht“, wirft die Wirtschaftswissenschaftlerin Philippa Sigl-Glöckner ein.
Sie sieht es als Problem, dass teurer Strom für Vielverbraucher dazu führen werde, dass die „Grundstoffindustrie“ – die Bereiche Chemie, Stahl, Aluminium – Deutschland verlässt. Das würde sich dann auf Branchen wie die Autoindustrie auswirken, die diese Stoffe brauchen. Auch für die Unabhängigkeit etwa von Batterieherstellern müssten Werke aufgebaut werden, die sehr viel Strom verbrauchen. „Ich glaube leider, die Politik wird ein bisschen gucken müssen: Wovon wollen wir nicht abhängig sein, was brauchen wir hier?“, sagt Sigl-Glöckner und kritisiert an Frei gewandt, die Union würde diese Fragen für ihre Wirtschaftspolitik nicht genauer untersuchen.
Flugs lenken die Herren in der Runde das Gespräch auf das Thema „Leistungsbereitschaft“ und liefern sich eine Art Klagewettbewerb. Nach einer Weile kommt die Ökonomin Sigl-Glöckner zu Wort. „Ich sehe eine ziemlich gute Motivation momentan, sich mehr anzustrengen, nämlich dass wir im letzten Jahr die größten Reallohnverluste seit Anfang der Statistik hatten“, sagt sie und führt zudem eine ansteigende Arbeitslosigkeit und eine relativ schwache Wirtschaftslage an. „Dass die Leute sagen, ist mir alles egal, ich bleib zu Hause, ist mir als Ökonomin nicht plausibel.“
Der CDU-Politiker Frei hält mit einem Vergleich der durchschnittlichen Arbeitsstunden in Deutschland und in der Schweiz dagegen. Doch Sigl-Glöckner schaut direkt auf die Hintergründe für diese Unterschiede: Wenn man die Gesamtarbeitszeit erhöhen wolle, müsse man zuallererst dafür sorgen, dass Frauen einen Kitaplatz für Kinder finden können.
Beim Thema „Kinder“ leitet Lanz zum Thema „Migration“ über – genauer gesagt zur von CDU-Spitzenpolitiker Frei geforderten Abschaffung des individuellen Rechts auf Asyl. Frei spricht daraufhin von überforderten Systemen und kritisiert, dass man in Europa nur so tue, als sei das Migrationsrecht human. Als Beispiel führt er die massenhaften Todesfälle von Migranten im Mittelmeer und in der Sahara an. Wie nun sein Vorschlag dies ändern würde, erklärt er indes nicht.
Die Migrationsforscherin Kohlenberger stimmt zwar Freis Problemanalyse in weiten Teilen zu, sieht dabei aber einen wichtigen Punkt ausgeklammert. Mehrere Mitgliedsstaaten setzen die europäische Asyl- und Migrationsgesetzgebung nicht mehr um – allen voran Ungarn, aber auch Griechenland, Polen und weitere. Deshalb warnt Kohlenberger davor, mit der Idee einer Abschaffung des individuellen Asylrechts zu spielen: „Ich glaube, es kommt nicht von ungefähr, dass in Polen, Ungarn die Rechte von Schutzsuchenden mit Füßen getreten werden und gleichzeitig auch die Rechte etablierterer Gruppen in der Gesellschaft beschnitten werden.“
Als Beispiele führt sie Einschränkungen der Frauenrechte in Polen und der Medienfreiheit und des Justizsystems in Ungarn an. Für solche Maßnahmen fungiere die Beschneidung von Minderheitenrechten als Einfallstor, so Kohlenberger. Deshalb fordert sie, dass andere europäische Länder dafür sorgen, dass auch dort das Asylrecht wieder voll umgesetzt werde, beispielsweise mit Sanktionen. Das hält der CDU-Politiker Frei für „utopisch“.
Während Lanz und Frei nach den Zahlen von Asylanträgen suchen, versucht Kohlenberger zunächst vergeblich, etwas zu sagen. Schließlich weist sie darauf hin, dass Menschen nicht aufhören, nach Deutschland und Europa zu kommen und auch dort zu bleiben, wenn das Asylrecht sich vom Einzelantrag abwendet und auf festgelegten Zahlen von Aufnahmen für ebenfalls festgelegte Länder ausgerichtet wird. „Dadurch wird das Abschiebeverbot nicht abgeschafft, das Nichtzurückweisungsprinzip, das ein Kernprinzip der Genfer Flüchtlingskonvention ist und auch in der europäischen Grundrechte-Charta verankert ist.“ Dann würden Menschen kommen, die nicht Asyl beantragen, aber auch nicht abgeschoben werden könnten, weil ihnen Verfolgung, Menschenrechtsverletzungen oder Ähnliches drohe im jeweiligen Herkunftsland, das möglicherweise gar nicht in den Aufnahmekontingenten vorkommt.
Und dann passiert etwas, das selten in der Talkshow passiert: Kohlenberger lenkt das Gespräch weg von Empörungsfutter und den Blick weg vom Nabel. „90 Prozent aller Geflüchteten weltweit finden nicht in Industriestaaten Zuflucht, sondern in Entwicklungs- und Schwellenländern“, sagt die Migrationsforscherin. Vor allem seien dies unmittelbare Nachbarländer von Fluchtländern. Im Libanon und in Jordanien sei etwa jeder vierte bis sechste Mensch ein syrischer Flüchtling. Aus diesem Grund würde eine Abschaffung des Asylrechts in Europa eine Kettenreaktion mit fatalen Folgen auslösen.
Das bestreitet der CDU-Politiker Frei. Er verweist darauf, dass auch Deutschland Nachbarn aufnehme. Kohlenberger bleibt indes beim großen Rahmen, und als Lanz erneut furchtbare Todesfälle anführt, bezeichnet sie diese als Endprodukt der europäischen Strategie von Abschottung, Abschreckung und Auslagerung. „Wenn dieses Rezept so tauglich gewesen wäre, warum diskutieren wir jetzt wieder so hohe Ankunftszahlen?“, fragt die Migrationsforscherin.
Um eine Lösung zu finden, sollte ihrer Meinung nach die Frage so gestellt werden: „Wie können wir die reguläre Arbeits- und Fluchtmigration erhöhen und gleichzeitig irreguläre Migration senken?“ Dabei weist sie darauf hin, dass der größte Arbeitskräftemangel nicht in akademischen Berufen liege, sondern im niedrig- und mittelqualifizierten Bereich.
Als mögliches Grundprinzip für ein geordnetes Asyl- und Migrationsrecht nennt Kohlenberger „statt Mauern Management“. Konkrete, erprobte Ansätze gebe es unter anderem beim Flüchtlingswerk der Uno, wo etwa Menschen mit passenden Qualifikationen aus humanitären Krisengebieten geholt werden oder die Zahl der Aufnahmen von Menschen aus dem UN-Flüchtlingsprogramm erhöht werde. Bröckner sieht das Problem damit aber nicht gelöst. Er pocht auf die ungelöste Frage der Abschiebung.
Schließlich konfrontiert Lanz die Runde mit einem populistischen Werbeplakat der Jugendorganisation der österreichischen Partei FPÖ, das sogenannte „Pushbacks“ – das illegale Zurückdrängen von Migranten aufs Meer - befürwortet. Den Hintergrund für solche Entwicklungen beschreibt Kohlenberger in einem Satz: „Ich glaube, das liegt daran, dass manche politische Akteure nicht die Lösung suchen, sondern das Problem brauchen.“