Maischberger-Talk zu Altena "Gesicht zeigen und den Mund aufmachen"

Düsseldorf · Beweist der Angriff auf Altenas Bürgermeister Hollstein die zunehmende Verrohung unserer Gesellschaft? Darüber streiten Sandra Maischbergers Gäste am Mittwochabend vor allem mit Alice Weidel. Aber die AfD-Politikerin weicht aus.

Darum ging's

Nach dem Messerangriff auf Andreas Hollstein will Sandra Maischberger herausfinden, wie es um die Gewaltbereitschaft der Deutschen steht. Der CDU-Bürgermeister aus dem sauerländischen Altena, bekannt für sein Engagement für Flüchtlinge, hat "eine zunehmende Verrohung in der Gesellschaft" beklagt. Der Angriff auf ihn sei kein Einzelfall. Die Runde in Maischbergers Sendung soll nun darüber diskutieren, ob Populisten die Stimmungslage im Land anheizen. Die Gastgeberin will außerdem wissen, wie sich Diskussionen über das Thema wieder versachlichen lassen.

Darum ging's wirklich

Bürgermeister Hollstein berichtet von dem Angriff und erzählt von der Wirkung, die der Vorfall auf ihn und seine Umgebung hatte. Dann geraten sich ein Kriminologe, zwei Politiker und ein Journalist über Kriminalität, Statistiken und die Verantwortung sozialer Netzwerke in die Haare. Andreas Hollstein bewahrt in der Diskussion als einziger die Ruhe.

Die Gäste

  • Andreas Hollstein, Bürgermeister von Altena, CDU
  • Christian Pfeiffer, Kriminologe, SPD
  • Jan Fleischhauer, Spiegel-Autor
  • Alice Weidel, AfD-Fraktionsvorsitzende
  • Heiko Maas, Bundesjustizminister, SPD

Frontverlauf

Andreas Hollstein darf in den ersten 20 Minuten über den Angriff vom Montagabend sprechen. Er erzählt, wie der 56-jährige arbeitslose Maurer zum Messer griff und wie viel Kraft er sowie die Imbissbesitzer aufbringen mussten, um den Angreifer abzuwehren. Vor allem aber will Hollstein darüber sprechen, warum er in der Sendung sitzt, obgleich ihm "eigentlich nach anderem zumute war".

Der Bürgermeister beklagt eine zunehmend vergiftete Stimmung in der Gesellschaft. Das, was man früher eine "gute Kinderstube und Erziehung" nannte, erlebe er immer seltener. Er beobachte einen Werteverfall, sagt Hollstein und zitiert aus hasserfüllten Nachrichten, die er vor und nach der Tat über soziale Netzwerke bekommen habe. "Wie wollen wir denn in Zukunft noch Helfer wie Feuerwehrleute und freiwillige Mitarbeiter gewinnen, die sich ehrenamtlich einsetzen, wenn sie sich als nützliche Idioten beschimpfen lassen müssen?"

Aber der arbeitslose Maurer tue ihm eher leid, sagt Hollstein, denn der Mann sei offenbar auf der Suche nach einem Sündenbock für seine eigene Misere und dabei jenen auf den Leim gegangen, die Fremdenhass schürten. Für die Folgen der Tat müsse er nun allerdings allein die Verantwortung übernehmen.

"Mir kommen die Tränen"

AfD-Politikerin Alice Weidel weist die Frage, ob sie oder ihre Partei eine Mitverantwortung für derlei Verrohung tragen, weit von sich. "Natürlich verurteile ich jede Gewalt, ob von links oder von rechts", sagt Weidel und attackiert stattdessen die SPD für sprachliche Angriffe auf ihre Partei in der Vergangenheit.

Heiko Maas stimmt Weidel zunächst zu. Ihre Partei sei nicht verantwortlich für Taten, sie sei bestenfalls mitverantwortlich für die Stimmung, die sie durch fremdenfeindliche Äußerungen schüre. "Mir kommen die Tränen, wenn ich so etwas höre: ‘Wir sind gegen Gewalt'", stichelt Maas. "Das Prinzip der AfD ist, Menschen gegeneinander aufzuhetzen, damit nimmt sie mindestens billigend in Kauf, dass die Sitten verrohen und dass Menschen, die vielleicht labil sind, über Hemmschwellen hinweggehen."

Hollstein meint ebenfalls, man tue der AfD zu viel Ehre an, eine Veränderung im Umgang miteinander allein der Partei zuzuschieben. Aber er fürchtet, dass über die sozialen Netzwerke "braunes Gedankengut wieder in die Gesellschaft einsickert und sich breitmacht - vielleicht auch in den Rändern der AfD". Der Angreifer am Montagabend habe vor allem versucht, "seinen persönlichen Frust zu legitimieren, durch einen Hintergrund, der schon vorher da gewesen ist".

Spiegel-Autor Fleischauer hält die AfD ebenfalls nicht für mitschuldig. Verrückte habe es schon immer gegeben, sagt er. Für die Demokratie im Lande sei durchaus erfreulich, dass jene "15 bis 20 Prozent, die bisher nicht repräsentiert waren, sich jetzt im Bundestag vertreten sehen". Zugleich habe er jedoch beobachtet, dass die Stimmung aufgeheizter sei. Ein Teil der Gesellschaft sei aufgeregter. So wüste Beschimpfungen wie vor der Wahl auf den Marktplätzen habe man früher nicht erlebt.

Christian Pfeiffer, der früher SPD-Politiker war und jetzt Kriminologe ist, hält für gefährlich, "dass die AfD Realitäten erfindet und daran dann politische Forderungen knüpft." Das sei etwa beim Thema Jugendkriminalität der Fall, die anders, als die Partei es darstelle, deutlich zurückgegangen sei. Fleischauer nimmt die AfD erneut in Schutz, auch in den Programmen anderer Parteien stünden Sachen, die nicht stimmten. Für ihn sei viel schlimmer, dass ein Bezirksabgeordneter der Partei in Berlin in aller Öffentlichkeit Nazi-Schergen wie Reinhard Heydrich loben dürfe und das folgenlos bleibe.

Trägt die AfD eine Mitschuld an der Stimmung im Land?

Alice Weidel wird erneut darauf angesprochen, ob ihre Partei mitverantwortlich für Angriffe und Angst im Land sei. Sie dreht die Argumente um und sagt, es sei vielmehr die Bundesregierung gewesen, die Gesetze gebrochen habe, um Flüchtlinge ins Land zu lassen. Somit sei sie verantwortlich für Straftaten der Flüchtlinge und Angst in der Bevölkerung. Dann streitet sie mit Heiko Maas fruchtlos über deutsche Asylgesetze.

Für Gesetze interessiert sich auch Fleischauer, allerdings für andere. Der Journalist berichtet von einem Selbstversuch, bei dem er sich unter einem anderen Namen auf Facebook als AfD-Sympathisant angemeldet hatte und erschrocken war, wie brutal und beängstigend Deutschland in seinem neuen, von Facebook konfektioniertem News-Stream aussah: "In diese Welt fällt ja kein Sonnenstrahl mehr!" Der konstante Beschuss mit gruseligen Videos "macht natürlich was mit den Leuten". Wenn sie dann zufällig in die normale Presse schauten, fänden sie all die Horrorgeschichten dort nicht und redeten dann von "Lügenpresse". Dass in sozialen Medien auch strafbare Inhalte wie etwa Holocaust-Verleugnungen weder strafbar noch bisher per Gesetz löschbar seien, sei ein Unding und müsse dringend geändert werden.

Hollstein sagt, nicht nur auf dieser politischen Ebene, auch bei kleineren Anlässen wie etwa einem Nachbarschaftsstreit oder Ärger mit einem Ratsherren sinke die Hemmschwelle zusehends. Dem Bürgermeister ins Gesicht zu sagen, er sei ein Idiot, sei logischerweise schwieriger, als anonym in einem Netzwerk zu hetzen. Entsprechend hoch sei die Zahl anonymer Beschimpfungen.

Justizminister Maas verspricht, sein neues Netzwerkdurchsetzungsgesetz werde sich um die Dunkelwelten in den sozialen Medien kümmern. Zugleich betont er, dass Gesetze nicht alles lösen könnten, es sei auch mehr Zivilcourage nötig. Menschen müssten wieder häufiger "Gesicht zeigen und den Mund aufmachen". Das helfe, die Gesellschaft wieder menschlicher zu machen, das zeigten für ihn auch die etwa 350 Menschen in Altena, die nach dem Angriff auf ihren Bürgermeister auf die Straße gingen.

Sandra Maischberger versucht es am Ende noch einmal bei Alice Weidel und fragt: "Können wir sachlich darüber reden: Was kann die AfD dazu tun, eine Versachlichung der Argument zu gewährleisten?" Doch Weidel weicht auch dieser Frage aus, dreht sie im zweiten Halbsatz um und lamentiert über Migrantenkriminalität, Asylbewerber, und die "Verdopplung der Kategorie Mord", über die man sprechen müsse. Zuletzt bleibt Maischberger nur, sich bei ihren Gästen zu bedanken, dass sie gemeinsam das "Fieberthermometer in die erhitzte Debatte" gehalten haben.

(juju)
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