Boris Palmer in „Maischberger“ „Wir scheinen hier extrem sicherheitsfokussiert zu sein“

Boris Palmer weiß nicht, wie er noch erklären soll, dass kleine Läden dicht bleiben. „Fehlt im Umgang mit der Pandemie die Fantasie?“ fragen sich Maischbergers Gäste. Diskutiert werden Impfstrategien und „Turboviren“.

 Sandra Maischberger im Gespräch mit Intensivmediziner Uwe Jansses  (r.) und Tübingens Bürgermeister Boris Palmer.

Sandra Maischberger im Gespräch mit Intensivmediziner Uwe Jansses  (r.) und Tübingens Bürgermeister Boris Palmer.

Foto: Screenshot ARD

Darum ging es

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer und Intensivmediziner Uwe Janssens bewerten die Verlängerung des Lockdowns. Zwei Journalistinnen und ein TV-Moderator geben ihre Einschätzungen zur Lage. Zuletzt wirf Sandra Maischberger in ihrer Sendung „Die Woche” einen Blick nach Russland.

Die Gäste

  • Prof. Dr. Uwe Janssens, Intensivmediziner
  • Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, B’90/Grüne
  • Tal Zaks, Chefmediziner Moderna
  • Udo Lielischkies, ehemaliger ARD-Russland-Korrespondent
  • Hubertus Meyer-Burckhardt, TV-Moderator
  • Anna Mayr, Hauptstadtkorrespondentin „Die Zeit”
  • Anette Dowideit, “Welt”-Investigativreporterin

Der Talkverlauf

Dass nun ausgerechnet die Frisöre am Tag nach dem neuen Corona-Gipfel im Vordergrund stehen, findet Welt-Journalistin Anette Dowideit eigenwillig, zugleich erinnert sie daran, diese Berufsgruppe übe eine wichtige soziale Funktion aus und ihre Arbeit sei wichtig fürs mentale Wohlbefinden. Hubertus-Meyer Burckhard fehlt in den Beschlüssen aus dem Kanzleramt die Kreativität: Er findet fantasielos, dass nicht zum Beispiel jemand auf die Idee gekommen ist Kinder in leeren großen Räumen wie Theatern oder Kinos zu unterrichten. Dann kommentiert er, dass angesichts der niedrigeren Inzidenzwerte einige Entscheidungen in den Ländern gefällt werden: „Wir haben zwar geredet, aber jeder fährt nach Hause und macht seinen eigenen Stiefel.”

Karl Lauterbach, der, wie Maischberger findet „schon immer Recht hatte” sitzt zwar ausnahmsweise nicht im Studio, wird aber natürlich trotzdem gehört: „Eigentlich müsste jetzt verschärft werden”, sagt er per Videoschalte. Man sehe zwar einen absinkenden Trend bei den Gesamtviren, so der SPD-Gesundheitsexperte, aber die größere Zahl gefährlicher werdender Viren aus Südafrika und England „wirken wie Turboviren“.

Diesen Ausdruck wiederholt Intensivmediziner Janssens nicht, macht aber klar, wie erleichtert er über den weiteren Lockdown ist: „Es musste verlängert werden, das war absolut unausweichlich.“ Allein in Köln seien schon 20 Prozent der Viren jene der sich schneller verbreitenden Mutation. Der Inzidenzwert müsse daher deutlich unter 50 gesenkt werden, er sähe ihn lieber „in der Nähe von 10“.

Boris Palmer allerdings hat Probleme mit der Verlängerung, ihm schwebt vor „kontrolliert und klug öffnen“, etwa mit mehr Schnelltests. „Bei massiven Grundrechtseinschränkungen kann nur die Intensivstation der Maßstab sein. Die Freiheit des einzelnen endet, wo die Freiheit des anderen eingeschränkt wird. Wenn mein Verhalten schuld ist, dass Sie kein Intensivbett bekommen, dann muss ich mich einschränken“, sagt er, jetzt aber sei die „Situation in unseren Kliniken sehr gut kontrollierbar und beherrschbar.“ Massive Grundrechtseinschränkungen seien deshalb nicht mehr vertretbar, findet der Oberbürgermeister. „Wir müssen jetzt klügere Strategien finden, die Ausbreitung des Virus zu verhindern.“

Janssens sieht das anders: Die Intensivstationen seien nicht der Ort, an dem getestet werden solle, ob die Pandemie-Maßnahmen anfingen zu wirken. „Die Intensivkapazität ist nicht das Maß aller Dinge. Wir sind in Deutschland im Land der Glückseligen. Wir haben wahnsinnig viele Intensivbetten“, sagt der Mediziner. Andererseits werde vergessen, dass diese 2000 freien Betten eigentlich dafür da seien, die Bevölkerung in normalen Zeiten zu versorgen. Außerdem warnt Janssen, dürfe man das Personal in den Intensivstationen nicht zum absoluten Burnout treiben.

Palmer warnt: „Es geht um die Verhältnismäßigkeit der Mittel: Bevor ich den Menschen verbiete zu arbeiten und ihre Familie zu treffen, muss ich erstmal ausreizen und sehen, was ich sonst noch tun kann um das Schlimmste zu verhindern.“ Er habe den Eindruck, da werde sich nicht genug Mühe gegeben. Viele Nachbarländer mit höheren Inzidenzen öffneten wieder, argumentiert der Tübinger, dessen Stadt mit niedrigen Inzidenzen als „Vorzeigemetropole“ gelobt wird. „Wir scheinen hier extrem sicherheitsfokussiert zu sein, mit unserer Entscheidung alles zuzulassen. Aber der Preis ist extrem hoch.“ Sein Herz schlage nicht nur mit den Kranken sondern auch mit der historischen Altstadt, in der die Läden dich seien.

„Ich kann’s den Leuten nicht mehr erklären warum der kleine Laden zu bleibt, das Zeug bei Aldi aber gekauft werden kann, wo Massenandrang ist, und zwischendurch der Amazon die ganze Welt erobert.“ Statt „von einer Angst zur nächsten zu stolpern“ wünscht sich Palmer mehr Erfindungsgeist im Umgang mit der Pandemie. „Sonst geht da zu viel kaputt.“

„Zeit”-Journalistin Anna Mayr fehlt eine etwas tiefere Ebene. Sie fragt sich, was für ein Bild der Gesellschaft da existiere „wenn Herr Palmer sagt - wir müssen den Verlust von Handel gegen den Verlust des Lebens abwägen.“ Ein Drittel der Menschen, die auf Intensivstationen kämen würden sterben. Das da überhaupt abgewägt würde, findet sie „prägnant”. Das bedeute ja, dass wir in einer Gesellschaft lebten, in der der Verlust von Arbeit verglichen wird mit dem Tod. „Geld ist in so einer Situation überbewertet“, sagt Mayr und wünscht sich ebenfalls neue Ideen.

Zur Impfsituation befragt Maischberger den Moderna-Mediziner Tal Zaks in Boston, der hofft, dass die Impfstoffe der drei in Europäischen Union zugelassenen Vakzine auch gegen Mutanten wirken, und wenn nicht, so doch möglichst schnell angepasst werden könnten. Daran arbeite man mit Hochdruck. Auf Maischbergers Frage „Wann sind wir mit Pandemie weltweit durch?” erinnert er daran, auch er habe keine Glaskugel, hoffe aber, dass „Länder, die Zugang zum Impfstoff haben, damit bis Ende des Jahres durch sind.” Weltweit werde noch eine Weile länger dauern.

Der gebürtige Israeli erklärt außerdem, warum in Israel bereits 60 Prozent der Bevölkerung zum ersten Mal geimpft seien. (In Deutschland bisher 3,8 Prozent): Israel habe immer unter existenzieller Bedrohung gelebt und so gelernt, sich schnell zu schützen und zu reagieren, beschreibt er den gesellschaftlichen Aspekt. Es gibt aber auch einen finanziellen: Der Staat Israel habe vorab stark in den Kauf von Impfstoffen investiert, lange ehe bekannt war, welcher Impfstoff wirken würde. Es verdiene Anerkennung, dass sie „die Weitsicht hatten, vorab zu investieren um sicherzustellen, wenn es losgeht, dass sie vorne in der Schlange stehen.”

Ehe die Gäste im Studio die aktuellen Ereignisse in Russland bewerten, spricht Moderatorin Sandra Maischberger zum Ende der Sendung mit dem ehemaligen ARD-Russland-Korrespondenten Udo Lielischkies über Wladimir Putin, Alexej Nawalny und mögliche Konsequenzen für die EU.

(juju)
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