Erdbeben bei „Hart aber fair“ „Es ist ja nicht so, als könne man wegrennen“
Köln · Nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien wollen viele Menschen helfen. Wie das geht, sollen die Gäste bei „Hart aber fair“ diskutieren. Zwischen den Zeilen geht es auch um undemokratische Regierungen.
Kurzfristiger Themenwechsel samt Einladungen: „Das Erdbeben in Syrien und der Türkei: Wie können wir helfen?“ heißt es am Montag bei „Hart aber fair“.
Die Gäste:
- Gerd Friedsam – Leiter des Technischen Hilfswerks
- Rangar Yogeshwar - Wissenschaftsjournalist
- Falah Elias – deutsch-syrischer Journalist
- Serap Güler (CDU) – Bundestagsabgeordnete
- Cem Özdemir (Grüne) – Landwirtschaftsminister
- Janine Wissler (Linke) war beim Erdbeben in der Türkei
Darum ging’s:
Um Erdbebenhilfe und -vorsorge, ein winziges bisschen um den syrischen Machthaber Baschar al-Assad und so gut wie gar nicht um den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan.
Der Talkverlauf:
Im Talk über das Erdbeben in Syrien und der Türkei ist zuerst der Wissenschaftsjournalist Rangar Yogeshwar gefragt: Er soll das Beben einordnen. Das Ausmaß könne man wahrscheinlich noch nicht abschätzen, meint Yogeshwar und erinnert daran, dass allein die Stadt Gaziantep so groß wie Köln sei. Im Rheinland bleibt der studierte Physiker gedanklich auch, um noch einen Punkt zu verdeutlichen: „Das sind keine kleinen Beben.“ Das Beben in Syrien und der Türkei sei 100 Mal stärker gewesen als das rheinländische Erdbeben im April 1992.
Der deutsch-syrische Journalist Falah Elias beschreibt, was es eigentlich bedeutet, wenn von einer Region Syriens die Rede ist, die nicht unter der Kontrolle der Regierung von Machthaber Baschar al-Assad steht. „Sie ist ein Niemandsland“, sagt Elias. „In den syrischen Staatsmedien wird diese Region heute nicht erwähnt.“ Zahlen zu Toten und Verletzten gebe es dort nur aus den Regionen, die unter Assads Kontrolle stünden. Das von Rebellen gehaltene Gebiet sei aber doppelt so groß wie der Libanon. Dort helfe die als „Weißhelme“ bekannte Organisation Syrischer Zivilschutz, die aber etwa von der Türkei nicht unterstützt werde.
Wie Hilfe aus dem Ausland aussehen könnte, soll Gerd Friedsam erklären. „Normalerweise gilt die Faustregel: Innerhalb von 72 Stunden nach einem Erdbeben hat man reelle Chancen, Überlebende zu finden“, sagt der Leiter des Technischen Hilfswerks. Er betont jedoch, die Gesamtsituation müsse betrachtet werden – darunter auch das Klima am Ort. In der Erdbebenregion ist es kalt, es schneit oder regnet. Zudem berichtet Friedsam, dass derzeit Informationen über die Lage außerhalb der großen Städte fehlen. Dort gebe es zum Teil Lehmbauten ohne Hohlräume, in denen sich Menschen in Sicherheit bringen könnten.
Mit seinem Hilfseinsatz beim Erdbeben in der Türkei von 1999 will Friedsam das aktuelle Unglück schon allein deshalb nicht vergleichen, weil dieser in den Sommermonaten stattfand. Ein weiterer Unterschied macht indessen Hoffnung: „Heute haben wir internationale Mechanismen, die greifen, um Hilfe, Rettung und Versorgung vor Ort zu bringen.“
Ein weitreichendes Frühwarnsystem für Erdbeben gebe es nicht, referiert Yogeshwar. Aber er berichtet von einer Möglichkeit via Handy, die zumindest einige Sekunden Vorwarnung geben könnte und in Kalifornien bereits eingesetzt wird. In Japan würden zudem Gasleitungen oder Schnellzüge nach einer Vorwarnung automatisch geschlossen beziehungsweise gestoppt. Das könne beispielsweise Brände verhindern.
Auch bei der Vorsorge dient Japan als Vorbild für Yogeshwar. Das Land habe seine Architektur angepasst und bei Erdbeben seither nur selten Katastrophen erlebt. In der Türkei hingegen habe es keine entsprechenden Vorkehrungen gegeben, bestätigt auch die nordrhein-westfälische CDU-Bundestagsabgeordnete Serap Güler. Nach dem Beben von 1999 sei aber das Katastrophenschutzamt Afad eingerichtet worden. „Der Vorteil ist, dadurch dass die Türkei ein zentralistischer Staat ist, wird in einem Krisenfall wie jetzt die komplette Leitung der Afad übertragen“, sagt die CDU-Politikerin. „Dass die Koordination aus einer Hand stattfindet, ist schon einmal sehr, sehr viel wert.“ Kritik äußert sie an Korruption in der türkischen Baubranche. Dadurch wirkt es so, als würde Güler von jeglicher Kritik an der türkischen Regierung Abstand nehmen. Zu einer klärenden Nachfrage kommt es aber nicht.
Stattdessen soll sich der zugeschaltete Landwirtschaftsminister Cem Özdemir äußern. Er hebt umgehend lobend hervor, dass Griechenland unter den ersten Ländern war, die Hilfe anboten. Am wichtigsten sei schnelle Hilfe, sagt er auch mit Blick auf die von Innenministerin Faeser gemachten Hilfsangebote. Dabei räumt er allerdings ein: „Mit der Türkei ist das einfacher als in Syrien.“
Über den türkischen Präsidenten Erdogan will sich auch Özdemir nicht auslassen angesichts der Krisenlage. Allerdings bringt er die anstehenden Wahlen in der Türkei ins Spiel. Daher müsse man sich nach Özdemirs Ansicht in der Türkei nach den akuten Hilfsleistungen „auch mit der Frage beschäftigen: Was lernt man daraus für die Zukunft?“
Elias merkt kritisch an, dass sich diese Diskussion vorrangig um die Türkei dreht. Der Journalist erinnert daran, dass sich 70 Länder im Jahr 2012 als „Freunde des syrischen Volkes“ zusammengetan hätten und den Syrern Mut gemacht, weiter gegen Assad zu protestieren. Unterdessen seien viele Menschen in Syrien immer weiter nach Norden vertrieben worden – „durch Bombardierung von Assad, Russland, Iran, et cetera“. Doch sie seien seit mehr als zehn Jahren vergessen. „Nicht einmal in dieser Katastrophe werden sie gleichermaßen erwähnt. Das ist für mich unverständlich“, sagt Elias.
Yogeshwar fragt daraufhin, was man denn konkret machen könnte in einer „Region, wo es keine Strukturen gibt“? Laut Elias könne man zur Not in Kooperation mit der türkischen Regierung Hilfe über deren Grenze schicken und damit die Assad-Frage umgehen. Ein zweiter Weg liefe über die Koalition gegen den IS in Syrien.
Mit Blick auf riesige Flüchtlingslager sowohl in Syrien als auch in der Türkei, die vom Erdbeben betroffen sind, bestätigt der THW-Leiter Friedsam zwar, dass von Zelten in dieser Situation zunächst einmal weniger Gefahr ausginge als von mehrstöckigen Gebäuden. Allerdings lebten die Menschen dort bereits unter prekären Bedingungen. „Insgesamt wird die Situation durch das Erdbeben für diese Menschen nicht besser.“ Für Hilfe aus dem Ausland gibt es in der Region jedoch ein Problem, wie Friedsam aufzeigt: „Ich kann nicht davon ausgehen, dass die Sicherheit meiner Einsatzkräfte gewährleistet ist.“ Deshalb sollte man sich nach Friedsams Ansicht unbedingt auf die Frage konzentrieren, wie man Hilfskräfte am Ort unterstützen könne. Als Beispiel nennt er dabei die bereits erwähnten „Weißhelme“.
Für einen Einblick in die Lage auf der türkischen Seite schaltet Moderator Louis Klamroth Janine Wissler zu. Die Co-Vorsitzende der Linken war eigentlich dort, um den Prozess gegen 108 türkische Oppositionelle zu beobachten. Sie wurde gegen 4 Uhr morgens vom Erdbeben aus dem Schlaf gerissen. „Man fühlt sich vor allem so hilflos“, sagt die Politikerin über diese Erfahrung. „Es ist ja nicht so, als könne man wegrennen.“ Menschen aus der Kurdenhochburg hätten ihr berichtet, dass Investitionen in diese Gebiete von der türkischen Regierung vernachlässigt würden. Wissler betont, man müsse unbedingt auch die Region Nordostsyrien mit seinen Flüchtlingscamps im Blick behalten. „Das ist eine Region, wo noch im November türkische Raketen eingeschlagen sind und Teile der Infrastruktur zerstört haben“, sagt die Linken-Vorsitzende.
Friedsam schätzt es so ein, dass es der Türkei bei ihrem Hilfeersuchen zunächst um die Bergung verschütteter Menschen geht. Er stimmt der CDU-Politikerin Güler zu, dass zunächst Zelte, Decken, Lebensmittel und Medikamente gefragt seien. „Und letzten Endes geht es ja dann auch ums Weiterleben“, sagt der THW-Leiter mit Blick in die Zukunft. Als Beispiel nennt er die Wiederherstellung der Trinkwasser- und Energieversorgung, auf die seine Organisation sich bereits vorbereite – auch wenn es dazu noch keine Anfrage gebe. Das Verfahren laufe so ab, dass die Türkei der EU sage, was sie benötige, und die Mitgliedsstaaten dies dann zur Verfügung stellten – so gut sie könnten.