Berlin Das Jahr der Revoluzzer
Berlin · Arte geht in der Dokumentation "Die globale Revolte" dem Mythos "1968" rund um den Erdball nach.
Für die Eltern des Philosophen Richard David Precht war der Großteil des deutschen Kinderfunks nichts als "amerikanische Scheiße". Dahinter habe die Vorstellung gesteckt: "Das ist Verblödungsfernsehen. Auf der einen Seite werden Tränen wegen Lassie vergossen und auf der anderen Seite werden Kinder in Vietnam bombardiert und verbrannt", schildert Precht seine Kindheitserinnerungen an die 68er-Ansichten in seiner Familie. Er gehört zu den vielen Zeitzeugen, die Regisseur Jean-Gabriel Périot für die zweiteilige TV-Doku "1968 - Die globale Revolte" vor die Kamera geholt hat. Aktivisten, politische Gefangene und Forscher rund um den Erdball erläutern darin, dass die Studentenunruhen 1968 weltweit Wurzeln hatten.
Beispiel USA: Von Mississippi, der Gegend mit dem ausgeprägtesten Rassismus in den USA, geht eine friedliche Protestbewegung aus. Sie ist mehr als ein Eintreten für die Rechte der Schwarzen. Bald schon geht es um die Frage, ob junge Menschen ihre politischen Debatten in die Hörsäle tragen dürfen. Der Staat schlägt zurück. Allein bei den Krawallen in Watts gibt es 1965 in sechs Tagen der Gewalt 34 Tote, die meisten von ihnen sterben durch Kugeln der Sicherheitskräfte.
Beispiel Großbritannien: Die Jugend steht der Politik zunächst fern, dafür toben im Seebad Brighton Straßenschlachten von Mods und Rockern, es geht um Musik und Kleidung. Die neuen Vorbilder: Beat-Dichter, deutsche Philosophen, französische Filmemacher. "Eine ganze Generation war auf der Suche nach einem besseren Leben und sah sich in einem Supermarkt der Ideen", sagt der Schriftsteller Barry Miles.
Auch der Historiker Wolfgang Kraushaar erinnert sich an die Sehnsucht nach neuen Antworten. "Es hat ein großes Gären, einen großen Unmut gegeben", sagt er über das West-Berlin der 60er Jahre. Die Unis seien bis in die Spitze hinein autoritär gewesen. Doch auch bei der Polizei herrscht 1967 der Geist der Vorkriegszeit. Das Trauma: der Tod von Benno Ohnesorg bei einer Anti-Schah-Demo. Eine wichtige Etappe des Wegs in die RAF-Gewalt.
Der Zweiteiler besticht durch die Vielzahl der Interviewpartner und die Fülle des Archivmaterials. Périots größtes Verdienst ist aber, dass er weltweit Stränge zusammenführt. Brasilien, Mexiko, Italien, Frankreich - überall brodelt es in diesen Jahren. Nicht nur in Deutschland, auch etwa in Japan steht am Anfang der Revolte der Tod eines Studenten. Was aber noch mehr verbindet, ist der Protest gegen das Massensterben im Vietnam-Krieg, Abend für Abend im TV zu sehen.
"1968" - Die globale Revolte", Arte, 20.15 Uhr