Gas-Talk bei „Anne Will“ „Wir sehen, dass das ein Riesenthema für Putin ist“

Hamburg · Ein ganz normaler Sonntag bei „Anne Will“: Grünen-Politikerin Beck fordert Waffenlieferungen, CSU-Chef Söder träumt von Atomstrom und der SPD-Ko-Parteivorsitzende Klingbeil stellt den Nutzen eines Gas-Embargos infrage.

 Die Talkrunde bei „Anne Will“ am 3. April 2022.

Die Talkrunde bei „Anne Will“ am 3. April 2022.

Foto: ARD

Am Sonntagabend läuft die Talkshow „Anne Will“ unter der Überschrift „Streit um russisches Öl und Gas - Soll Deutschland den Import sofort stoppen?“.

Die Gäste:

  • Lars Klingbeil (SPD), Ko-Parteivorsitzender
  • Markus Söder (CSU), Parteivorsitzender und Ministerpräsident von Bayern
  • Veronika Grimm, Wirtschaftswissenschaftlerin
  • Marieluise Beck (Grüne), Osteuropa-Expertin ihrer Partei
  • Robin Alexander, Journalist

Darum ging’s:

Um einen Stopp russischer Energieimporte, um Waffenlieferungen und politische Fehler der Vergangenheit.

Der Talkverlauf:

Unter dem Eindruck der am Wochenende bekanntgewordenen Tötungen von Zivilisten im ukrainischen Butscha diskutiert die Talkrunde bei „Anne Will“ über das Für und Wider eines sofortigen Stopps der Energieimporte aus Russland. Die gerade aus Kiew zurückgekehrte Marieluise Beck berichtet zunächst von wiederkehrendem Luftalarm während ihrer Reise, sowohl bei nächtlichen Zugfahrten als auch am Rande der ukrainischen Hauptstadt. „Also das, was Putin bekanntgegeben hat, ‚Kiew greifen wir nicht mehr an‘, das ist schlichtweg die Unwahrheit“, sagt die Osteuropa-Politikerin der Grünen und spricht sich vehement für Waffenlieferungen aus.

In Bezug auf ein sofortiges Embargo russischer Energielieferungen will sich Beck dennoch nur vorsichtig äußern. Sie verstehe, dass Habeck und Scholz einem großen Druck ausgesetzt seien. Das sei sicherlich keine leichte Entscheidung. Auf der anderen Seite sehe sie die Vorteile eines zeitlich begrenzten Lieferstopps. „Der kurze, harte Schnitt folgt der Logik, dass Putin verstehen würde: Der Westen macht wirklich ernst“, sagt Beck.

Der SPD-Co-Parteivorsitzende Lars Klingbeil indes hält „ein sofortiges Gas-Embargo aus vielen Gründen für einen falschen Weg“. Klingbeil beschreibt zunächst den Weg der Bundesregierung: „Wir drehen gerade jeden Tag den Gashahn ein Stück weiter zu.“ Wirtschaftsminister Habeck habe angekündigt, dass Deutschland sich noch in diesem Sommer aus der Abhängigkeit von russischer Kohle befreien könne, beim Öl im kommenden Winter. Moderatorin Anne Will ergänzt, dass es beim Gas aber dem Vernehmen nach bis mindestens 2024 dauern solle.

Die Wirtschaftswissenschaftlerin Veronika Grimm gibt zu bedenken, dass eine Ankündigung, sich ganz allmählich von Russland unabhängig zu machen, auch ihre Schattenseiten hat. „Russland wird sich in diesen drei, vier Jahren anders organisieren können, vielleicht auch mit China“, sagt die Wirtschaftsexpertin. Darüber hinaus weist sie darauf hin, dass es Zwischenschritte zwischen der jetzigen Abhängigkeit und einem radikalen Embargo gebe. Eine Idee sei ein Importzoll, auch ein auf Öl beschränktes Embargo hätte eine beachtliche Wirkung, da Öllieferungen nach Deutschland fast die Hälfte der Einnahmen darstellten. „Gar nichts tun ist im Moment möglicherweise eine sehr schlechte Entscheidung“, sagt Grimm.

Neben dem Thema Energie-Embargo kommt Moderatorin Anne Will im Talkverlauf immer wieder auf eine Frage zurück: Hat Deutschland angesichts der verstörenden Bilder aus dem ukrainischen Butscha genug getan, um so etwas zu verhindern? „Bei aller Brutalität dieser Bilder und bei aller Emotionalität, die auch ich habe, müssen wir über die Konsequenzen reden, die das für uns in Deutschland hätte“, sagt Klingbeil. Folgen eines sofortigen Stopps für russische Gaslieferungen sieht der SPD-Politiker nicht nur in der Industrie, sondern auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Auf der anderen Seite könne sich der russische Staatschef Wladimir Putin mit den aus Deutschland überwiesenen Euro keine Kriegsgüter, High Tech und Ähnliches mehr beschaffen. „Und es sei auch die Frage erlaubt, ob ein Gas-Embargo dazu führt, dass Putin wirklich diesen Krieg stoppt.“

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder reiht sich beim Fragenstellen ein: „Es ist ja nicht nur die Frage, wann wir uns unabhängig machen. Wer sagt uns eigentlich, dass Russland nicht selber irgendwann reagiert?“ Russland versuche bereits, seine Energielieferungen auf andere Teile der Welt umzuverteilen. Deshalb empfiehlt Söder zwei Maßnahmen: Deutschland solle Waffenlieferungen im gleichen Umfang und genauso organisieren wie seine Verbündeten. Zudem warnt der CSU-Chef vor dem lange geplanten Ausstieg aus der Atomenergie mit den drei verbliebenen Kernkraftwerken. Er spricht sich für längere Laufzeiten und möglicherweise sogar einen Ausbau aus. Daraufhin fragt Klingbeil, ob Söder sich dann auch bereiterklären würde, das Endlager für Atommüll in seinem Bundesland anzusiedeln. Eine Antwort bekommt er nicht.

Auch für einen wie von der polnischen Regierung geforderten auf drei Monate begrenzten Importstopp will sich Söder nicht aussprechen. „Erst mal überlegen“, sagt der CSU-Politiker. Er verweist auf die Sorgen der Industrie, aber auch auf die Gefahr einer Überschuldung. Im Vorbeigehen stellt Söder schließlich wie Klingbeil die Wirksamkeit eines Energie-Embargos infrage. „Russland versucht ganz bewusst und massiv, andere Partner zu finden“, sagt er und kritisiert Indien.

Da widerspricht Beck umgehend. „Pipelines baut man nicht über Nacht“, sagt sie. Schnelle Ausweichmöglichkeiten gebe es für Russland nicht. „Putin hat diesen Krieg nicht auf Basis von ökonomischer Vernunft geführt“, entgegnet Klingbeil und fragt, was zu tun sei, wenn sich nicht innerhalb kürzester Zeit zeige, dass ein Energie-Embargo funktioniere.

„Welt“-Chefredakteur Alexander wiederum findet Becks Argumente „ganz vernünftig“. Seit ein solches Embargo im Raum stünde, hätte Putin bei Scholz angerufen. Auch auf Scholz‘ Ansage, die Lieferungen würden entgegen russischer Forderungen nicht in Rubel bezahlt, habe Putin einen Schritt zurück gemacht. „Niemand kann in seinen Kopf gucken, aber wir sehen, dass das ein Riesenthema für Putin ist“, sagt Alexander. Er weist daraufhin, dass die nun fehlende Infrastruktur zur Verteilung von Energie-Rohstoffen auf politischen Fehlern aus den Jahren 2014 und 2015 basiert: „Infrastruktur ist nicht Schicksal.“ Damals seien gegen den Rat der Fachwelt unter anderem Raffinerien an Russland verkauft worden. Kritik an politischen Fehlern der Vergangenheit nimmt der SPD-Politiker Klingbeil unumwunden an. Nun pocht er aber auf die von Scholz angekündigte „Zeitenwende“.

Der Journalist Alexander kann unterdessen Kritik etwa aus Polen nachempfinden, die sich an einer unklaren Haltung Deutschlands aufhängt. „Ganz Mitteleuropa, ganz Osteuropa ist bestürzt über Deutschland“, sagt er. Auch das schwindende Vertrauen der europäischen Nachbarn müsse unter den Folgekosten des russischen Angriffskriegs in der Ukraine eingerechnet werden. „Das ist gefährlich, dass ist politisch teuer und letztlich ist es auch finanziell teuer.“

Was die deutsche Wirtschaft nun verkraften kann oder nicht, soll Veronika Grimm beleuchten. Sie ist Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, auch bekannt als die „Wirtschaftsweisen“. In der Vorwoche hatte Kanzler Olaf Scholz wissenschaftliche Studien über die Möglichkeit eines Stopps einfach abgetan. Dazu sagt Grimm: „Dass das einfach zu verkraften ist, hat niemand behauptet.“ Ein sofortiger Stopp würde einen sehr tiefen Wirtschaftseinbruch nach sich ziehen und es wären staatliche Hilfen wie zu Corona-Zeiten nötig, sagt Grimm.

„Die andere Seite der Entscheidung ist glaube ich nicht nur eine moralische“, sagt Grimm. „Sondern es geht auch um die langfristige Sicherheit in Europa.“ Nicht klar auf die Aggressionen von Putin zu reagieren, könne auch als Aufforderung verstanden werden, so weiterzumachen. „Und das würde auch die wirtschaftliche Entwicklung in Europa dauerhaft ganz anders aussehen lassen.“ Grimm geht davon aus, dass sowohl Russland als auch China die Reaktionen sehr genau beobachten werden.

Die Wirtschaftswissenschaftlerin ist der Ansicht, dass auf dem Weg zur Energieunabhängigkeit mittelfristig höhere Energiekosten auf Deutschland zukommen. Parallel habe sich Deutschland in der Sicherheitspolitik lange auf die USA verlassen und müsse nun investieren, um für die eigene Sicherheit zu sorgen. Zudem gebe es im Handel Abhängigkeiten sowohl von Rohstoffen als auch von Exporten. „Das heißt, wir werden nach dieser Zeitenwende in einer strukturell ganz anderen Welt sein.“

(peng)
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