TV-Kritik: Anne Will und Kirsten Heisig Was tun mit den Prügel-Kindern?

Themenabend in der ARD: Erst befasst sich der verstörend unkorrekte Film "Das Ende der Geduld" mit jugendlichen Intensivtätern und dem Wirken der Jugendrichterin Kirsten Heisig. Anschließend zeigt Anne Will die Hilflosigkeit der Richter auf.

Bilder aus dem Film "Das Ende der Geduld" über Kirsten Heisig
18 Bilder

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2010 nahm die Jugendrichterin Kirsten Heisig sich das Leben. Zuvor hatte sie sich aufgerieben im Kampf gegen jugendliche Straftäter, insbesondere denen aus den Parallelwelten türkisch-arabischer Clans. Ihren Beinamen "Richterin Gnadenlos" verdiente sie sich mit ihrem kompromisslosen Einsatz für schnelle Strafen und entschlossenes Gegenhandeln von Behörden und Justiz. Am Mittwochabend befasste sich die ARD mit dem Film "Das Ende der Geduld" mit ihrem Vermächtnis.

Der ARD-Film weckte Erinnerungen an Sarrazin. Er zeigt zehnköpfige Familien aus dem Libanon, in denen Heranwachsende mit Pistole im Bett liegen und sich einen feuchten Kehricht um Polizei und deutsche Gesetze scheren. Wo Clans systematisch Kinder mit Drogen dealen lassen, weil die noch nicht in strafmündigem Alter sind. Wo Jugendliche mit ungehemmter Brutalität ganze Schulen und Viertel einschüchtern. Und vor Gericht selbst ein vergewaltigtes Mädchen nicht aussagt, weil es Angst vor Racheakten hat.

Politische Unkorrektheiten im Drehbuch

Auch Heisig darf in diesem Film Sätze sagen, die politisch unkorrekt sind. "Sie brauchen kein Geld, Sie brauchen einen Deutschkurs", sagt sie einer libanesischen Mutter. Gleichzeitig skizziert sie der Film als eine Frau, der es doch eigentlich nur darum geht, Kindern zu helfen, so lange es noch geht und dabei der Wahrheit so gut sie kann ins Gesicht sieht.

Das alles kommt einem unangenehm bekannt vor. In der Sarrazin-Debatte — ebenfalls im Jahr 2010 - sind solche Fälle bis ins Detail intensiv diskutiert worden. Oftmals mit dem Ergebnis, dass die Wahrheit viel komplizierter ist.

Genau damit befasst sich im Anschluss an den Film auch Anne Will in ihrer Talkshow. Sie will Bilanz ziehen und Antworten auf die Frage geben, was passiert ist seit ihrem Tod. Eingeladen hat sie dazu vor allem Gäste, die sich mit Intensivtätern in Berlin bestens auskennen. Die Jugendrichterin Corinna Sassenroth ("Generation Heisig") und den Staatsanwalt Michael von Hagen zu ihrer Rechten, die Journalisten Christian Stahl und Güner Balci zu ihrer Linken. Er hat zehn Jahre lang einen Intensivstraftäter begleitet, sie kannte Kirsten Heisig persönlich aus ihrer Zeit als Sozialarbeiterin in Neukölln.

Respekt ist kein Fremdwort

Um es vorwegzunehmen: Anne Will tut sich schwer. Ihr Einstieg in den Talk misslingt, schneidet abrupt den Abspann des Films ab und steigt mitten in Wills Anmoderation ein. Ein Überblick auf die Entwicklung seit Heisig durch Statistiken bleibt aus. Will setzt lieber auf Details. Zunächst sollen die Gäste aus der Justiz erzählen, ob es vor Gericht wirklich so respektlos zugeht, wie der Film es gezeigt hat. Baseballcap nicht abnehmen. Kaugummi unter den Tisch kleben. Jubel aus den Besucherreihen. Ob es denn wirklich stimmt, dass Richter manchmal Angst vor einem Prozess haben.

Die Antwort fällt erfreulich nüchtern aus. Das gebe es vereinzelt, ja, bestätigt von Hagen, bei dem nur die ganz harten Fälle mit Todesfolge auf dem Schreibtisch landen. Aber nicht durchgehend und mit einem Trend zur Besserung. Sassenroth erzählt sehr selbstsicher, bei ihr reiche es, eine Augenbraue anzuheben, um sich Respekt zu verschaffen und man glaubt ihr das, so wie man sie bei Will erlebt.

Spielt die Herkunft eine Rolle?

An anderer Stelle insistiert Will unangenehm lange auf der Frage, ob Heisigs Problemanalyse denn zutreffe, dass es vor allem türkisch-arabische Clans seien, die Straftäter hervorbringen. Doch auch hier zeigt sich umgehend, dass einfache Urteile im Komplex Jugendkriminalität nicht funktionieren. Am meisten ereifert sich wohl der Journalist Christian Stahl: In der Mehrzahl seien es nämlich deutsche Kinder von zugewanderten Eltern, die allesamt hier aufgewachsen seien. Heißt: Dieses Problem hat weniger mit der Herkunft zu tun als den Bedingungen, in denen diese Kinder aufwachsen.

Er verweist darauf, dass solche Schicksale oft auch in Flüchtlingsfamilien entstehen, denen der deutsche Staat keine Grundrechte zuerkennt. Über Jahre gelten solche Menschen als staatenlos, dürften nicht arbeiten, lebten in Ungewissheit. "Wenn deutsche Gesetze nicht für solche Menschen gelten, dann pfeifen die eben auf das Recht", sagt Stahl.

Strafe als Ritterschlag

Es geht um Ursachenforschung. Wie können Biographien so aus dem Ruder laufen, dass Probleme eskalieren und aus Kindern enthemmte Schläger, Machos und Kriminelle werden. Die Beispiele, von denen vor allem Güner Balci berichtet, lassen nichts an Deutlichkeit vermissen. Manchmal terrorisiere ein Täter ein ganzes Viertel, Schulen seien erleichtert, wenn solche Fälle lieber den Unterricht schwänzen würden.

Bewährungsstrafen deutscher Gerichte lösen bei solchen Nachwuchs-Kriminellen nur Verachtung aus. "Dann gehen die raus und lachen", weiß von Hagen. Strafen empfänden die eher als Ritterschlag und brüsteten sich damit. Eins macht der Staatsanwalt am Ende noch deutlich: Ist eine Karriere schon so weit gediehen, dass selbst Schulen nichts mehr reparieren können, kommt das Gericht zu spät. Das Jugendstrafrecht will im Kern erziehen, notfalls auch mit Strafen. Wenn aber Strafe als Ritterschlag empfunden wird, hat der Staat ein Problem.

(pst)
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