Hamburg Elfjähriger flieht aus Zirkus-Pflegefamilie

Hamburg · Das Jugendamt hatte den aggressiven Jungen in Zusammenarbeit mit dem Erziehungsverein Neukirchen in einem Zirkus untergebracht.

Ein Elfjähriger wird vom Jugendamt aus seiner Familie geholt – die Eltern sind drogenabhängig, die Großeltern überfordert. Kein Heim will den aggressiven Jungen aufnehmen. Das Jugendamt gibt ihn in eine Pflegefamilie, die einen Wanderzirkus betreibt. Dort soll er zur Ruhe kommen. Doch angeblich muss er in einem ungeheizten Bauwagen schlafen, die Ställe ausmisten, wird geschlagen. Als er es nicht mehr aushält, flieht er.

Das ist die Geschichte von Jeremie – und ein Fall, der derzeit vor allem auf Behauptungen und Vorwürfen beruht. Fakt ist nur: Seit Dienstagabend ist der Junge verschwunden. Mittlerweile hat er sich bei seinen Großeltern gemeldet. "Es gibt aber keinen Hinweis auf sein Versteck", sagt eine Polizeisprecherin. Vermutlich ist er in seiner Heimatstadt Hamburg untergetaucht.

Fraglich ist, wie er dorthin gekommen ist. Mit Jeremie verschwand vom Zirkusgelände in Lübtheen (Mecklenburg-Vorpommern) ein Kleintransporter, der am Mittwoch im Hamburger Stadtteil Billstedt wieder auftauchte. Jeremies Pflegeeltern bezweifeln, dass er den Wagen über 100 Kilometer allein gefahren haben kann. "Dieser Fall wird immer dubioser", sagte Christiane Blömeke, jugendpolitische Sprecherin der Grünen Bürgerschaftsfraktion in Hamburg.

Das Jugendamt hatte Jeremie vor gut zwei Jahren in die Zirkusfamilie gebracht. Wie eine Sprecherin des Bezirksamtes Hamburg-Mitte erklärte, sei das als schwierig geltende Kind nirgendwo sonst untergekommen. Da Jeremie aus einer Roma-Familie stammt, habe man den Zirkus für ein geeignetes Lebensumfeld gehalten, sagte sie: "Das war mit einer der Gründe." Schließlich müsse man schauen, was Akzeptanz finde – sowohl bei der Herkunftsfamilie als auch bei dem Kind.

Der Erziehungsverein in Neukirchen-Vluyn war die Lösung. Der diakonische Träger vermittelt verhaltensauffällige Kinder auf Bauernhöfe, in Handwerkerfamilien oder Zirkusse. Dort sollen sie in den Alltag zurückfinden. Für jedes Kind gebe es ein Hilfskonzept, das mit den Angehörigen und dem Jugendamt abgesprochen werde, erklärt der Verein in einer Stellungnahme auf seiner Homepage. "Wir arbeiten seit 20 Jahren mit Zirkussen zusammen", sagte ein Sprecher. "In Zirkusfamilien ist der Zusammenhalt sehr groß." Nach Angaben der Hamburger Bürgerschaftsfraktion der Grünen hatten Jeremies Betreuer im Zirkus keine pädagogische Ausbildung. Auch die rechtliche Grundlage der Unterbringung sei unklar.

Die Mutter und die Großeltern des Jungen machen dem Jugendamt und der Pflegefamilie schwere Vorwürfe. "Er hat immer wieder weinend angerufen, ist geschlagen und ausgenutzt worden", sagte die Mutter dem "Hamburger Abendblatt". Die Großmutter sagte der "Bild": "Wir wollten mit Jeremie Weihnachten feiern, aber das Amt hat das verboten." Die Pflegefamilie weist alle Vorwürfe zurück. Sie vermutet, dass Jeremie nicht ausgerissen ist, sondern von Angehörigen abgeholt und weggebracht wurde.

(RP)
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