Kraft der Atom-Reaktoren "Ein Zehntel von Tschernobyl"

Frankfurt/Main (AP) Experten wird es schon seit langem mulmig, wenn es um die Sicherheit russischer Atom-U-Boote geht. Zwischenfälle sind keine Seltenheit. Gesicherte Erkenntnisse über das jetzt in der Barentssee auf Grund gelaufene U-Boot mit 116 Seeleuten an Bord gibt es bislang nicht. Fest steht aber, dass die "Kursk" von zwei atomaren Reaktoren angetrieben werden, deren Kraft laut Experten etwa einem Zehntel jenes von Tschernobyl entspricht.

Nach dem Unfall wurden die Reaktoren abgeschaltet. Atomsprengköpfe sind nach offiziellen russischen Angaben nicht an Bord.

Nach Ansicht von Experten reichen aber bereits die beiden Reaktoren aus, um einen Umwelt-GAU anzurichten. Greenpeace fordert deshalb, das in einer Tiefe von 108 Metern liegende Boot unter allen Umständen zu bergen. Atomexpertin Susanne Ochse sagte: "Langfristig kann Radioaktivität nicht zurückgehalten werden." Die beiden Reaktoren haben jeweils eine Kraft von 190 Megawatt, insgesamt also 380. Im Vergleich dazu hat laut Ochse das kleinste deutsche Kernkraftwerk Obrigheim eine Stärke von rund 1.000 Megawatt.

Und nach Angaben des Ingenieurs für Reaktorsicherheit Gerhard Schmidt vom Darmstädter Öko-Institut entspricht die Kraft der beiden Reaktoren etwa einem Zehntel des explodierten Reaktors von Tschernobyl. Sollte die Radioaktivität der beiden Boots-Reaktoren freigesetzt werden, wäre dies entsprechend ein Zehntel der bei dem Gau von 1986 freigesetzten Menge. Der Unterschied zu Tschernobyl läge aber darin, dass die Radioaktivität im Wasser freigesetzt und nur ein geringer Teil in die Luft gelangen würde, sagte Schmidt. Die Ausbreitung wäre also weniger intensiv als nach Tschernobyl. Allerdings wären dann größere Meeresteile der nördlichen Hemisphäre nicht mehr befischbar.

Dies sieht auch Ochse von Greenpeace so. Nach ihren Angaben haben die Sowjets bis 1988 sogar alte Reaktoren im Meer verklappt, die zwar bis heute noch keine Radioaktivität freigesetzt haben. Dasselbe sei auch bei dem 1989 ebenfalls in der Barentssee verunglückten russischen U-Boot "Komsomolet" der Fall, bei dem 42 Seeleute ums Leben kamen. Auch diese Reaktoren hätten nach jüngsten Erkenntnissen bislang keine Radioaktivität freigesetzt. Auf lange Sicht aber korrodiere das Material, Strahlen würden freigesetzt, und Radioaktivität gelange schließlich über Fische in die Nahrungskette.

Zu dieser Unsicherheit kommen erhebliche Zweifel, ob an Bord der "Kursk" tatsächlich keine Waffen sind. Das U-Boot der Klasse Oscar-II kann 24 atomare Sprengköpfe tragen, die gegen größere Schiffe wie Flugzeugträger eingesetzt werden. Darüber hinaus gibt es immer wieder Unklarheit über den wahren Zustand der russischen Streitkräfte. Immerhin ist die "Kursk", die Mitte der 90er Jahre in Betrieb genommen wurde, das modernste der russischen U-Boote der Oscar-II-Klasse. Von dem Typ verfügt die Marine neben der "Kursk" noch sechs in der Nord- und weitere vier in der Pazifikflotte.

Russischer Atomkomplex in "erbärmlichem Zustand"

Annette Schaper, Expertin für nukleare Abrüstung bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), betonte, der Zustand der U-Boot-Flotte werde bei den russischen Militärs mit am geheimsten gehalten. Gesicherte Erkenntnisse gebe es kaum. Allerdings sei der russische Atomkomplex insgesamt in einem "erbärmlichen Zustand", sagte Schaper. Sie betonte aber, dass dabei auf Grund der Menge von Radioaktivität weit mehr Gefahren von den Reaktoren als den Atomwaffen ausgingen.

Auch für die Deutsche Sektion der Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) ist es nicht akzeptabel, "dass heute immer noch fast 5.000 Atomwaffen in höchster Alarmbereitschaft gehalten werden, vielfach auf U-Booten". Der Unfall der "Kursk" belege erneut die zunehmenden technischen Probleme des russischen Militärs, die Folge fehlender Gelder seien.

Für die 116 eingeschlossenen Seeleute sind solche Überlegungen zweitrangig. Ihnen drohte am Dienstag noch der Erstickungstod, denn die Aussichten auf eine Rettung sanken stündlich. Die "Kursk" war bei einem Manöver am Sonntag auf Grund gelaufen. Zur Unglücksursache gaben die russischen Militärs zunächst eine Kollision mit einem anderen Boot an. Am Dienstag indes hieß es, es gebe Anzeichen für eine Explosion an Bord.

(RPO Archiv)
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