Gastbeitrag Die Schuld am Krieg trägt der Nationalismus

Die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand heute vor 100 Jahren in Sarajevo löste den Ersten Weltkrieg aus. Dazu ein exklusiver Gastbeitrag vom Enkel des letzten Kaisers von Österreich.

 Karl von Habsburg.

Karl von Habsburg.

Foto: Rudolf Gruber

Die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand heute vor
100 Jahren in Sarajevo löste den Ersten Weltkrieg aus. Dazu ein exklusiver Gastbeitrag vom Enkel des letzten Kaisers von Österreich.

Wer nicht weiß, woher er kommt, weiß auch nicht, wohin er geht, da er seinen Standort nicht kennt! Die Kenntnis der Geschichte ist die einzige Richtschnur, die uns helfen kann, Voraussagen für die Zukunft zu wagen. Dieser Tage blicken wir zurück auf die Ermordung des Thronfolgers der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, Erzherzog Franz-Ferdinand und seiner Gemahlin Sophie in Sarajevo vor 100 Jahren, und müssen uns fragen, kann sich so ein Vorfall wiederholen und damit ein Ereignis wie den Ersten Weltkrieg auslösen, mit seinen vielen Millionen Toten und endlosem Leid?

Im Frühsommer 1914 war die Welt noch in Ordnung, und niemand in führender politischer Position hielt einen Konflikt dieser Dimension für möglich. Einige regionale Kriege auf dem Balkan in den vergangenen Jahren — wobei vor allem über die Randgebiete des langsam zerfallenden osmanischen Reiches gestritten wurde — ließen einen Konflikt mit Serbien als Möglichkeit erscheinen, auch wenn dieser nur von kurzer Dauer sein würde. Alle europäischen Großmächte waren damit beschäftigt, sich in ständig wechselnden Allianzen zu ergehen, die ihren individuellen Notwendigkeiten am meisten entgegenkommen würde. Frankreich wollte sichergehen, dass der deutsche Nachbar nicht zu mächtig würde, daher erschien eine Allianz mit Russland das Gebot der Stunde. Russland war an einem Zugang zum Bosporus interessiert und wollte sich nebenbei die Kontrolle der orthodoxen Länder sichern. England war — außer im Kolonialbereich — nicht wirklich an einem europäischen Konflikt interessiert, aber noch weniger konnte es sich einen Konflikt ohne seine Teilnahme vorstellen. Deutschland wollte eine Seemacht werden, was den Engländern gar nicht gefiel.

Aber was passierte in Österreich-Ungarn? Der sogenannte Ausgleich mit der ungarischen Reichshälfte stellte eine gravierende Benachteiligung der slawischen Völker der Monarchie dar, die nach ähnlichen Rechten wie die ungarischen und deutschen Völker verlangten. Tschechen und Kroaten, Slowaken, Polen und noch viele mehr wussten, dass insbesondere Erzherzog Thronfolger Franz-Ferdinand ihre Bedürfnisse verstand, und erhofften sich, dass sobald er Kaiser sei, sich ihre Situation verbessern würde. Aber in Serbien wurde genau das als massive Bedrohung empfunden, da dies in weiterer Konsequenz den serbischen Anspruch auf Führerschaft der slawischen Völker Mittel- und Osteuropas in Frage gestellt hätte. Es ist eine echte Ironie des Schicksals, dass Franz-Ferdinand durch die Hand serbischer Attentäter sterben musste, eben weil er sich für mehr Rechte der slawischen Völker einsetzte.

Eine Frage, die natürlich immer gestellt wird, ist: wer trägt die Schuld am Krieg? In vielen Bereichen wurde es üblich, entweder Deutschland, Serbien oder Österreich-Ungarn zu beschuldigen, obwohl dies heute von so gut wie keinem seriösen Historiker mehr aufrecht gehalten wird. Das bedeutendste historische Werk zum Ersten Weltkrieg, "Die Schlafwandler" von Christopher Clark, weist völlig zu Recht darauf hin, wie alle zeitgenössischen Politiker und Herrscher die Möglichkeit eines kleinen, regional begrenzten Konfliktes sahen und in Kauf nahmen. Aber niemand hatte die Gabe oder die Fantasie sich einen ausgedehnten, weltweiten Krieg mit Abermillionen Toten und unendlichem Leid vorzustellen, der die geographische und politische Landkarte Europas ein für alle Mal verändern würde.

Wenn wir von Schuld sprechen, dann müssen wir ganz klar den erstarkten Nationalismus hervorheben. Es war eben dieses Gefühl der Überlegenheit, das zu Aggressionen mit den Nachbarn führte. Man muss hier aber auch klarstellen, dass dieser Nationalismus nicht mit Patriotismus verwechselt werden darf. Als Patriot liebt man sein eigenes Land und wird deshalb auch dem Nachbarn mit Respekt begegnen. Der Nationalist jedoch ist durch ein Gefühl der Überlegenheit geleitet, und die Versuchung ist da, den 'inferioren‘ Nachbarn zu kontrollieren.

Dieses Gefühl der Überlegenheit kann man schon bei der Französischen Revolution beobachten, wo es zum Beispiel zum Abschlachten der Landbevölkerung in der Vendée führt. Dann im Ersten Weltkrieg, aber insbesondere auch im Zweiten Weltkrieg mit seinen Abscheulichkeiten im Namen des Nationalismus. Sogar in den kürzlichen Wahlen zum Europäischen Parlament konnte man wieder in einigen Ländern eine Tendenz in dieser Richtung feststellen.

Eine interessante Tatsache ist, dass wir heute möglicherweise noch mehr an den Konsequenzen des Ersten Weltkriegs leiden als an denen des Zweiten Weltkriegs. Insbesondere die Auflösung des Osmanischen Reiches führte in weiterer Folge zur Schaffung einer ganzen Reihe von Kunststaaten mit allen fatalen Nebeneffekten. Die Radikalisierung des Islams, die Kriege im Irak und heute in Syrien finden zum Teil ihre Wurzeln im Vertrag von Sèvres. Die Auseinandersetzung mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs hat auch zu einer differenzierteren Sicht der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geführt. In vielen Fällen wird die Unterscheidung zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg immer diffuser, der Zweite Weltkrieg wird immer mehr als logische Konsequenz des Ersten betrachtet. Auch dadurch wird die destruktive Rolle des Nationalismus immer offensichtlicher.

Aber was kann als Rückschluss auf der positiven Seite gesehen werden? Eine Konsequenz der zwei Weltkriege war die Schaffung der Europäischen Union, und damit des größten, erfolgreichen und am längsten andauernden Friedensprojektes auf dem europäischen Kontinent. Unsere heutigen Probleme mit der Europäischen Union lassen uns nur allzu leicht vergessen, dass es die Ursprungsidee dieser Union war, die beiden Erbfeinde unseres Kontinents, nämlich Frankreich und Deutschland, durch gemeinsame Interessen so nahe zusammenzubringen, dass ein Krieg wie die beiden Weltkriege nie mehr möglich sein würde.

Und in dieser Hinsicht ist die Europäische Union ungeheuer erfolgreich. Friede und Freiheit sind Werte, die man nie selbstverständlich nehmen sollte. Es zählen diese zu den höchsten Errungenschaften der Zivilisation, die ständig bedroht sind und Tag für Tag aufs Neue verteidigt, wieder erworben und verdient werden müssen. Und dies ist die wichtigste Lektion, die wir von einem bedeutsamen Jahrestag wie dem heutigen lernen können.

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