Elfjähriger verschwindet aus Zirkus-Pflegefamilie Wurde Jeremie entführt?

Lübtheen/Hamburg · Ist Jeremie ausgerissen oder wurde er entführt? Denkbar ist alles im Falle des elfjährigen Hamburgers, der am vergangenen Dienstag aus dem westmecklenburgischen Lübtheen spurlos verschwunden ist.

Einem Jungen, der so wild ist, dass Familie und Schulen ihn nicht bändigen können, dem traut man auch zu, mit einem Kleintransporter 100 Kilometer über Land nach Hamburg zu fahren.

Nur seine Pflegemutter Carmen Sperlich, die juristisch gesehen seine Projektstellenleiterin ist, glaubt nicht, dass er den Uralt-Mercedes allein gesteuert hat: "Den kann er nicht gefahren haben", sagt die 45-jährige Zirkusfrau und siebenfache Mutter.

Übernächtigt, still und unglücklich sitzt sie am großen Küchentisch, statt der Kinder umringen sie Journalisten und zwei Mitarbeiter des Neukirchener Erziehungsvereins (Nordrhein-Westfalen). Bei dem ist sie angestellt, ihr Zirkus ist durch Jeremie eine Projektstelle des Vereins geworden.

Was weiß Jeremies Familie über das Verschwinden?

Der Erziehungsverein als Träger der Jugendhilfe und das Jugendamt Hamburg-Mitte haben Jeremie vor zwei Jahren in dem Wanderzirkus untergebracht. Die Pädagogin Silke Sack bezweifelt, dass der Junge ausgerissen ist. Er sei in den zwei Jahren nie weggelaufen, er sei von einer schwierigen in eine stabile Verfassung gekommen. "Ein einziges Mal war er drei Stunden lang nicht auffindbar", berichtet Sack, die von Hamburg aus die Projektstelle "Wanderzirkus" betreut. Der Amtsvormund des Jungen beim Jugendamt habe Strafanzeige wegen Kindesentziehung gegen Unbekannt erstattet, sagt sie.

Auch ihr Chef Dietmar Glöge versichert, mit Jeremie vor kurzem "einen aufmerksamen, fröhlichen und freundlichen Jungen" kennengelernt zu haben, der stolz war, sich mit Tieren auszukennen und der im Zirkus als Clown mitwirkte.

Dennoch ist Jeremie samt Auto verschwunden. Der Verdacht, seine Hamburger Familie könnte damit zu tun haben, steht im Raum. Ausgesprochen wird er nicht. Vorfälle mit Jeremies Eltern hat es Sperlich zufolge immer mal gegeben. Wenigstens hat der Großvater sie angerufen, nachdem Jeremie sich bei ihm gemeldet hatte. Ein anderes Lebenszeichen habe sie bisher von ihm nicht bekommen, sagt Carmen Sperlich. Tränen schießen ihr in die Augen. Sie hätten eine emotionale Beziehung zueinander gehabt, er habe "Mama" zu ihr gesagt.

Der kleine Zirkus nimmt seit mindestens sechs Jahren sein Winterquartier auf einem einstigen Betriebsgelände in der Nähe von Lübtheen. Die Zirkusleute wohnen in einem festen Flachbau und in ihren Wagen. Nach romantischem Zirkusleben sieht es im Novembergrau nicht aus. Je nach Gastspielen sind sie mit ihren Tieren von März bis Oktober oder November unterwegs - in Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Dresden, Berlin, wie Carmen Sperlich erzählt. Sie kennt selbst kein anderes Leben. Vier Generationen gehören derzeit zur Zirkusfamilie. Ein oder zwei Wochen bleibt der Zirkus an einem Ort, dann zieht er weiter.

Pflegemutter weißt Vorwürfe zurück

Während ihre leiblichen Kinder die regulären Schulen besuchen oder besuchten - sie sind zwischen 13 und 27 Jahre alt - geht Jeremie in keine Schule. Die Art und Weise, auf die er lernt, heißt "Distanzbeschulung", wie Glöge erläutert. Der Unterricht läuft über speziell vorbereitete Lernportale im Internet - für Kinder mit extrem schwierigem Sozialverhalten, die nicht lange still sitzen können. Carmen Sperlich verbringt täglich mit Jeremie etwa eine Stunde vor dem PC. Mehrmals im Jahr kommt ein Lehrer vorbei.

Die Vorwürfe, die die Pflegemutter in den vergangenen Tagen gehört hat, machen sie ratlos. Niemand habe Jeremie zum Betteln oder Stehlen angehalten. Er sei auch nicht zum Feuerschlucker ausgebildet worden, dennoch habe er sich darin versucht, heimlich, nach einer Vorstellung, zu der seine leiblichen Eltern gekommen waren. "Feuer fasziniert ihn", sagt Sperlich. Aber Jeremie sei schon als Clown aufgetreten, halte den Vorhang auf, mache die Requisite. "Er war gerne hier", ist die Pflegemutter überzeugt. Jeremie ist ihr erstes Pflegekind. Das Jugendamt zahlt für die Unterbringung. "Ich liebe Kinder", sagt sie. "Ich wollte einem schwierigen Kind eine Chance geben und die Möglichkeit, in einer intakten Familie zu sein."

Ob Jeremie, wenn er wieder auftaucht, zurück zum Zirkus kommt, hängt von der "Hilfeplankonferenz" ab, die dann zusammentreten muss, wie Glöge sagt. Die Entscheidung hängt dann vom Jugendamt, dem Amtsvormund und dem Trägerverein ab.

(dpa)
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