Hartz IV vor Gericht Wie viel braucht ein Kind zum Leben?

Düsseldorf (RPO). 207 Euro im Monat – so viel steht der geltenden Hartz-IV-Regelung nach Kindern zum Leben zu. Nach Ansicht der Richter am Bundessozialgericht in Kassel ein Fall für das Verfassungsgericht. Im Mittelpunkt steht die Frage: Was braucht ein Kind in einer wohlhabenden Gesellschaft wie der Bundesrepublik für ein Leben in Würde?

Die Hartz-Gesetze I-IV: unwirksame Reform oder großartiger Wurf?
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Die Hartz-Gesetze I-IV: unwirksame Reform oder großartiger Wurf?

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Düsseldorf (RPO). 207 Euro im Monat — so viel steht der geltenden Hartz-IV-Regelung nach Kindern zum Leben zu. Nach Ansicht der Richter am Bundessozialgericht in Kassel ein Fall für das Verfassungsgericht. Im Mittelpunkt steht die Frage: Was braucht ein Kind in einer wohlhabenden Gesellschaft wie der Bundesrepublik für ein Leben in Würde?

Nach dem Gesetz erhalten Kinder bis zum Alter von 14 Jahren 60 Prozent des Hartz-IV-Regelsatzes eines alleinstehenden Erwachsenen, das so genannte Sozialgeld. Umgerechnet sind das 207 Euro monatlich. Kinder zwischen 14 und 18 Jahren bekommen 80 Prozent. Nach Angaben des Vereins für soziales Leben hat sich seit der Einführung des ALG II die Zahl der betroffenen Kinder auf mehr als 2,5 Millionen verdoppelt.

Zwei Familien aus Dortmund und dem Landkreis Lindau mit je zwei Kindern sind nun in Kassel vorstellig geworden. Zwei Argumente haben sie vor Gericht vorgebracht:

1. Existenzminimum 60 Prozent des gültigen Hartz-IV-Satzes gewährleisten Kindern nicht das Existenzminimum wie es die Verfassung garantiert. Im Jahr 2005 hatten die zuständigen Behörden den Klägern eine höhere Regelleistung verweigert und als Bedarf den Regelsatz von damals 207 Euro pro Monat festgelegt.

2. Willkür Der Gesetzgeber hat die Absenkung auf 60 Prozent nicht begründet. Die Kläger sehen darin einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz, da Kinder ohne sachlichen Grund gegenüber erwachsenen Hartz-IV-Empfängern benachteiligt würden.

Das Bundessozialgericht hat die beiden Fälle nun nach Karlsruhe verwiesen. Die Richter schlossen sich in der Urteilsbegründung vor allem dem zweiten Argument der Kläger an. Die Herabsetzung des Hartz-IV-Satzes auf 60 Prozent verstoße gegen das Gleichheits- und Willkürverbot des Grundgesetzes.
(Az: B 14/11b AS 9/07 R und B 14 AS 5/08 R)

Armut in Deutschland

Eine Antwort auf die Frage, ob 207 Euro Kindern ein angemessenes Aufwachsen in Deutschland ermöglicht, gab Kassel nicht. Dies bleibt Aufgabe der Richter in Karlsruhe. Experten erwarten, dass sie die geltende Gesetzgebung korrigieren werden. Zur Ermittlung der Hartz-Sätze für Erwachsene wurden etliche Statistiken bemüht. Bei Kindern nicht. Der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge hält eine Neuregelung deshalb für zwingend nötig. "Die Bundesregierung muss einen kinderspezifischen Regelsatz einführen", sagte Butterwegge der "Thüringer Allgemeinen". Unter Umständen könne der Bedarf bei Kindern auch höher ausfallen als bei Erwachsenen.

Dies macht deutlich, dass es in der Diskussion um Kinderarmut in Deutschland nicht ums nackte Überleben geht. Kein Sozialpolitiker in Deutschland könnte ernsthaft einen Vergleich mit den Straßenkindern von Kalkutta wagen. Wenn in Deutschland von Armut die Rede ist, dann dem geltenden Verständnis nach von relativer Armut. Und die kann, so formuliert es Butterwegge in einem Vortrag, "hierzulande sogar deprimierender, bedrückender und bedrängender sein." In einer Konsumgesellschaft könnten Kinder einem viel stärkeren Druck ausgesetzt sein, sowohl von von Seiten der Werbeindustrie als auch Mitschülern. Bei Armut in Deutschland geht es um faire Chancen, Gleichheit vor dem Gesetz und ein Leben in Würde.

"Ohrfeige für den Gesetzgeber"

Sozialverbände und Forscher beklagten seit der Einführung von Hartz-IV mehrfach eine Verdopplung der Kinderarmut und deren Verharmlosung per Dekret. Dabei sind die Folgen für Betroffenen schwerwiegend: Für arme Kinder sind Dinge wie Sport in einem Verein oder ein behütetes Aufwachsen alles andere als selbstverständlich. Ihre Realität sieht anders aus: Sie ernähren sich schlecht, bewegen sich weniger, haben schlechtere Bildungschancen und kaum ausreichende soziale Unterstützung. Das alles, so die Kritiker, habe der Gesetzgeber ignoriert.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband sieht nun darum in der aktuellen Entscheidung des Bundessozialgerichts eine "schallende Ohrfeige für den Gesetzgeber". Der Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Ulrich Schneider, sagte der Nachrichtenagentur AP am Dienstag, es sei beschämend, dass Richter auf die Armut von Kindern aufmerksam machen müssten. Die Richter in Kassel hätten bestätigt, "dass Regelsätze ohne Blick auf den tatsächlichen Bedarf willkürlich festgestellt worden sind".

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