2015 Wenn wir an die Zukunft denken

Düsseldorf · Nachdenken ist ein seltsames Wort. Wenn wir nachdenken, richten wir den inneren Blick in Wahrheit weniger zurück. Wenn wir nachdenken, blicken wir oft voraus. Wir wollen unbedingt wissen, was als nächstes passiert. Vordenken müsste es eigentlich heißen.

2015: Wenn wir an die Zukunft denken
Foto: Julia Gyshina / Shutterstock.com

Aber die Zukunft, die uns so brennend interessiert, kennt kein Mensch. Wir können sie uns höchstens ausmalen. Dafür brauchen wir die Bilder der Vergangenheit. Deshalb ist Nachdenken doch nicht so falsch. Wir erinnern uns an die Zukunft.

Zukunft — noch so ein eigentümliches Wort. Im Unterschied zu anderen Europäern benutzen wir Deutsche nicht das lateinische "futur", sondern eine Übersetzung von ad-ventus, Ankunft. Damit war im Mittelalter die Ankunft Gottes gemeint. Es war die einzige Zukunft, die sich Menschen damals erhofften durften.

Zukunft heute, das klingt unkalkulierbarer. Nicht nur, dass wir beständig auf etwas Ungewisses zutreiben. Dieses Zukünftige scheint uns obendrein mit einer schwer einschätzbaren Eigendynamik entgegen zu kommen. Manchmal rast Zukunft förmlich auf uns zu. Das Gefühl kennt jeder. Und dass man manchmal froh wäre, wenn man ausweichen könnte. Aber darüber lässt sich nachdenken.

Zukunft zieht uns ebenso magisch an. Wir wollen ja weiterkommen. Wir wollen es besser haben. Glücklicher werden. Der unbekannte Strand, an dem wir demnächst Urlaub machen, hat keine Steine. Das Hotel ist absolut ruhig und sauber. Die anderen Feriengäste sind interessant und gutaussehend, ihre Kinder wohlerzogen. Wir ahnen, dass es anders kommen könnte. Aber das wollen wir uns nicht vorstellen. So funktioniert Zukunft nicht.

Entkommen. Und ankommen. Darum geht es, wenn wir uns mit dem beschäftigen, was auf uns zukommt. Und weil wir das unablässig tun, haben wir es in all der Zeit so weit gebracht. Und die Tiere nicht. Weil wir uns mit der Zukunft beschäftigen, haben wir nicht nur die ewige, gleichgültige Grausamkeit der Natur besser ausgetrickst als jedes andere Lebewesen. Wir haben sogar die Evolution überholt.

Denn für Menschen besteht Zukunft aus Zielen, die darüber hinausgehen, am Leben zu bleiben. Nicht wenige opferten gar ihre physische Existenz, um etwas zu schaffen, was ihr Jetzt überdauerte. Der Erfolgreichste war Jesus Christus. Andere gründeten Weltreiche, entdeckten Amerika oder landeten auf dem Mond. Menschen, die in der Vergangenheit in die Zukunft blickten, verdanken wir unsere Gegenwart: Antibiotika, Autos, Atombomben.

Es ist wahr: Sich weit in die Zukunft hinauszulehnen, birgt auch die Gefahr, unversehens wieder in der Steinzeit zu landen. Visionen waren immer der Treibstoff menschlichen Handelns. Aber damit lassen sich auch Sprengköpfe befördern.

An die Zukunft denken, wischt Ängste weg. An die Zukunft denken, beschwört jede erdenkliche Art von Ängsten herauf. Was neuerdings dazu führt, dass die Leute montags durch die Städte ziehen. Zukunft ist Verheißung, sie ist Bedrohung, sie ist Irrtum. Nicht immer geht es um Fortschritt. Einige wollen die Vergangenheit wieder errichten. Und gehen dabei über Leichen.

Vielleicht liegt's ja am Wetter. Wissenschaftler befragten zwei Gruppen von Leuten, ob ihr Leben gelinge oder eher schwierig sei. Doch während die einen bei strahlendem Sonnenschein darüber nachdachten, regnete es bei den anderen. Ergebnis: die Sonnen-Gruppe war deutlich zufriedener. Die Forscher zogen daraus den Schluss: "Planen Sie Ihre Zukunft bei guter Laune."

Trotzdem: Weil wir uns so sehr mit unserer Zukunft beschäftigen, wissen wir längst, dass wir nicht weitermachen können wie bisher. Wir sollten einsichtiger sein, wir sollten lieber früher als später handeln. Aber das Schöne an der Zukunft ist, dass sie noch ein ganzes Stück weit weg ist.

Für die einen mehr, für die anderen weiniger. Denn auch die Art, wie wir sprechen, beeinflusst unser Verhältnis zur Zukunft. Deutsch zum Beispiel zählt zu den zukunftslosen Sprachen. Wir sagen: "Wir gehen einkaufen", wenn wir das gerade tun. Und weil wir bequem sind, schlabbern wir einfach das Futur-Wörtchen "werden", wenn wir ankündigen: "Morgen gehen wir einkaufen." Klappt auch prima so.

Wissenschaftler folgern daraus, dass Zukunft dem Benutzer zukunftsloser Sprachen näher erscheint. Sie beginnt, sprachlich gesehen, schon jetzt. Deshalb kümmern sich die Deutschen mehr um ihre Zukunft als andere. Sie schließen mehr Versicherungen ab, sorgen besser fürs Alter vor und rauchen weniger. Und nach Klimakonferenzen sind sie immer am bittersten enttäuscht.

Erich Kästner, ein Meister der deutschen Sprache, ein Kenner seiner Landsleute und einer, der etwas vom Leben verstand, hat uns etwas mitgegeben, das uns jetzt, wenn das Jahr wechselt und der ein oder andere mit wechselnden Gefühlen Richtung Zukunft blickt, herrlich unaufgeregt über den Weg läuft: "Wird's besser? Wird's schlimmer?, fragt man alljährlich. / Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich."

(bew)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort