Ohnmacht in Sexualkunde Warum kollabierten die Kinder in Serie?

Der Vorfall in dem Gymnasium in Borken erstaunt: Im Sexualkundeunterricht der sechsten Klasse kippte erst ein Schüler um, dann weitere sieben. Fachleute vermuten dahinter ein psychologisches Phänomen.

Hier schlummern die erogenen Zonen
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Foto: Shutterstock.com/ MJTH

Helle Aufregung am Donnerstagmorgen im Borkener Gymnasium Remigianum. Im Sexualkunde-Unterricht sollten die Sechstklässler Skizzen von Geschlechtsteilen bearbeiten. Ein Schüler wurde währenddessen plötzlich blass und klappte zusammen. Als er behandelt wurde, wurde sieben weiteren Schülern flau. Auch sie knickten weg. Zwei erholten sich schnell, sechs wurden zur ambulanten Behandlung ins Krankenhaus gebracht.

Die Schlussfolgerung, da seien ein paar sehr sittsam erzogene Kinder mit zu viel sexueller Offenheit konfrontiert worden und überfordert zusammengebrochen, drängt sich manchem sicher auf. Doch Schulleiterin Dorothea Meerkötter findet die Vorstellung absurd. Sie bezweifelt, dass der Serienkollaps etwas mit dem Sexualkundeunterricht zu tun hat und führt den Vorfall auf wetterbedingte Kreislaufprobleme zurück.

Nicht der erste Fall

Auch andere Beteiligte stehen zunächst vor einem Rätsel. "Eigentlich ist nichts passiert", sagte ein Polizeisprecher. Alle Kinder seien unverletzt. Wie Meerkötter spricht er daher von einer Kettenreaktion. Ein Kind habe hyperventiliert, das habe das nächste Kind unter Stress gesetzt. Als dann auch noch der Notarzt kam, sei das nächste Kind beinahe kollabiert. Einem Kind wurde vorsichtshalber Blut abgenommen. Doch nach dem, was bisher über den Fall bekannt ist, wäre ein positiver Befund überraschend.

Der Fall der Serien-Ohnmacht erinnert an einen noch frischen Fall in Krefeld. Vor rund zwei Wochen brachen dort bei einem Sportfest acht Schüler einer Gesamtschule beim Dauerlauf zusammen. Auch dort tappten die Verantwortlichen im Dunkeln. Erst wurde der Zusammenbruch der Kinder auf den Verzehr von Softeis zurückgeführt, später wurden Luftproben genommen. Ohne Ergebnis.

Einem Fall von Hysterie nicht unähnlich

Umso mehr drängt sich in beiden Fällen eine psychologische Erklärung auf. "Wenn zum Beispiel einige zu wenig getrunken haben und deswegen kollabiert sind, ist es nicht ausgeschlossen, dass ein Welleneffekt einsetzt", vermutete schon Klaas Henkel von der Feuerwehrleitstelle in Krefeld. Auch Ulrich Lenssen vom Krefelder Klinikum kennt Fälle, in denen Kinder in der Gruppe kollabiert sind, weil sie Angst bekamen und unbewusst nachgeahmt haben.

In der Psychologie ist dieses Phänomen vor allem im Zusammenhang mit Hysterie bekannt. Heutzutage gilt Hysterie als eine Form der psychischen Konfliktlösung in einer anscheinend ausweglosen Situation. Als typisch für das Krankheitsbild gilt, dass sie sich auf vielfältige Weise körperlich äußert, organisch aber keinerlei Grundlage für eine Erkrankung besteht. In der Fachliteratur ist inzwischen lieber von dissoziativen Störungen die Rede.

Ansteckungsgefahr

Forscher wissen von Fällen zu berichten, in denen Hysterie sich wie eine ansteckende Krankheit fortpflanzte. Etwa in einem Dorf in der Nähe von Washington, wo während einer Theateraufführung 35 Kinder umkippten. Spätere Untersuchungen im Krankenhaus förderten dasselbe Ergebnis zutage wie die in Krefeld oder Borken: Die Kinder waren gesund.

Auch die Beschreibungen von kollektiver Panik lassen sich auf die Fälle von Serien-Ohnmacht anwenden. Nach der — allerdings stark kritisierten — Theorie des Franzosen Gustave Le Bon neigen Menschen dazu, in einer Gefahrensituation ihr Verhalten gegenseitig zu beobachten und darauf zu reagieren. Daraus resultiert der Gedanke, dass sie sich gegenseitig mit ihrer Angst anstecken und diese in einer sich hochschaukelnden Wechselwirkung verstärken können.

(pst)
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