Jury-Entscheidung in Marburg „Klimaterroristen“ ist Unwort des Jahres 2022

Marburg · Protestaktionen von Klimaschützern schlugen im vergangenen Jahr hohe Wellen, auch in der Debattenkultur. Die beteiligten Akteure dabei mit Terroristen zu vergleichen - das geht nach Auffassung einer sprachkritischen Jury aber zu weit.

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Foto: dpa, Stephan Jansen

Klimaterroristen“ ist das „Unwort des Jahres“ 2022. Der Begriff fiel im vergangenen Jahr in Debatten um umstrittene Klima-Proteste - und dient aus Sicht der sprachkritischen „Unwort“-Jury dazu, diese zu diskreditieren. Aktivisten würden mit Angst und Schrecken verbreitenden Terroristen „gleichgesetzt und dadurch kriminalisiert und diffamiert“, begründete Jury-Sprecherin Constanze Spieß am Dienstag im hessischen Marburg die Wahl. Gewaltlose Protestformen zivilen Ungehorsams und demokratischen Widerstands würden so „in den Kontext von Gewalt und Staatsfeindlichkeit gestellt“.

Zudem trete mit der Verwendung des Begriffs die Forderung nach wirksamen Klimaschutz-Maßnahmen ebenso in den Hintergrund wie die Bedrohung, die vom Klimawandel ausgehe, erklärte die Jury weiter. Spieß zufolge tauchte „Klimaterroristen“ 2022 an verschiedenen Stellen auf: In Aussagen von Politikern etwa oder in sozialen Netzwerken.

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Insbesondere die Mitglieder der Gruppe Letzte Generation hatten im vergangenen Jahr mit ihrem Protest immer wieder für Aufsehen gesorgt. Einen Höhepunkt erreichten die Debatten Anfang November, als es in Berlin zu einem tragischen Verkehrsunfall kam, in dessen Folge eine Radfahrerin starb. Ein Spezialfahrzeug, das helfen sollte, sie zu befreien, stand nach Angaben der Feuerwehr minutenlang im Stau. Die Verzögerung sei durch eine Protestaktion der Letzten Generation zustande gekommen, hieß es. Ein Wendepunkt, der zu einer heftigen medialen Diskussion über die Grenzen von Klima-Protesten führte.

Selbst Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der sich zuvor mit Kommentaren zu Protesten zurückgehalten hatte, appellierte nach dem Unfall an Aktivisten, keine Menschenleben zu gefährden. Zugleich distanzierte sich die Bundesregierung aber von jeglichen Terrorismus-Vergleichen.

Die waren davor insbesondere aus den Reihen von AfD und Union zu vernehmen, wo auch Rufe nach einem härteren juristischen Durchgreifen immer lauter wurden. Bei einem Auftritt im Bundestag bezeichnete der stellvertretende AfD-Bundessprecher Stephan Brandner die Klimaproteste als „Klimaterrorismus in seiner reinsten Form“. Der Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt, warnte im Gespräch mit der „Bild am Sonntag“ vor der „Entstehung einer Klima-RAF“ - in Anlehnung an die linke Terrorgruppe Rote Armee Fraktion. Ein Vergleich, den die Jury in Marburg übrigens für ähnlich diffamierend hält wie das Unwort des Jahres und damit verwandte Formulierungen wie „Ökoterrorismus“. Zur Einordnung: Der linken Terrorgruppe RAF fielen von 1970 bis Anfang der Neunzigerjahre mehr als 30 Menschen zum Opfer. Ob Dobrindt diesen Begriff auch heute noch so verwenden würde, ist offen. Eine entsprechende Anfrage blieb zunächst unbeantwortet.

Die Aktivisten selbst fühlen sich durch die „Unwort“-Wahl indes bestärkt. „Es ist ermutigend zu sehen, dass heute der Begriff 'Klimaterroristen' zum Unwort des Jahres 2022 gewählt wurde“, sagte eine Sprecherin der Aktivisten-Gruppe Letzte Generation am Dienstag der dpa. Insbesondere „an Tagen wie diesen“ sei es „ermutigend, weiter friedlichen Widerstand zu leisten“. Auch die Gruppe Fridays for Future (FFF), die für eher moderate Protestformen bekannt ist, äußerte sich positiv. Es sei eine „sehr angemessene und vor allem zeitgemäße Wahl für ein Unwort des Jahres“, sagte FFF-Aktivistin Luisa Neubauer dem Deutschlandfunk. „Hier werden Menschen, die sich für den Schutz des Klimas, für den Schutz der Lebensgrundlagen einsetzen, bewusst und strategisch kriminalisiert“, betonte sie.

Das „Unwort des Jahres“ wird seit 1991 bestimmt und wurde auch in der aktuellen Runde aus Vorschlägen ausgewählt, die Interessierte bis zum 31. Dezember 2022 eingereicht hatten. Generell in Frage kommen Formulierungen, die aus Sicht der Jury gegen die Prinzipien der Menschenwürde oder Demokratie verstoßen, die gesellschaftliche Gruppen diskriminieren oder die euphemistisch, verschleiernd oder irreführend sind. Ziel sei es, für einen angemessenen Sprachgebrauch zu sensibilisieren. Bei der Entscheidung kommt es nicht darauf an, wie oft ein Wort vorgeschlagen wurde. 2021 war die Wahl auf „Pushback“ gefallen.

Die Hand eines Klimaaktivisten, der sie auf einer Autobahnausfahrt am Innsbrucker Platz festgeklebt hatte, wird von Polizisten vom Boden versucht zu lösen.

Die Hand eines Klimaaktivisten, der sie auf einer Autobahnausfahrt am Innsbrucker Platz festgeklebt hatte, wird von Polizisten vom Boden versucht zu lösen.

Foto: dpa/Christoph Soeder

Diesmal gab es 1476 Einsendungen mit 497 verschiedenen Begriffen. Die Jury, die im Konsens über das „Unwort“ entscheidet, besteht aus vier Sprachwissenschaftlern, einer Journalistin und einem jährlich wechselnden Gastjuror. Neben „Klimaterroristen“ gab sie am Dienstag noch weitere, aus ihrer Sicht kritikwürdige Begriffe bekannt: So landete „aus aktuellem Anlass“ etwa der Ausdruck „Sozialtourismus“ auf Platz zwei, der bereits 2013 zum „Unwort“ bestimmt worden war. CDU-Chef Friedrich Merz hatte das Wort im vergangenen September im Zusammenhang mit Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine verwendet und sich später dafür entschuldigt. Die Jury sah in dem Wortgebrauch „eine Diskriminierung derjenigen Menschen, die vor dem Krieg auf der Flucht sind und in Deutschland Schutz suchen“.

(zim/mzu/dpa)
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