Bützow ist überall Tornados sind in Deutschland keine Seltenheit

Düsseldorf · Wie aus dem Nichts kam der Wirbelsturm über die norddeutsche Kleinstadt Bützow. Die Schäden: gewaltig. 123 Häuser wurden beschädigt, 16 davon sind unbewohnbar, teils wurden Mauern weggerissen wie Pappwände. Nach Ansicht von Experten war es nicht mehr als ein Tornado mittlerer Kategorie. In Deutschland werden jährlich zwischen 20 und 60 solcher Wirbelstürme registriert.

Tornados sind in Deutschland keine Seltenheit
Foto: dpa, jai

Tornados, wie man sie am Dienstag im norddeutschen Bützow erleben konnte, sind entgegen der öffentlichen Wahrnehmung keine Seltenheit in Deutschland. Allein im Jahr 2015 wurden nach Angaben der Europäischen Unwetterdatenbank sieben solcher Stürme offiziell registriert und durch Satellitenbilder und Schäden am Boden überprüft und nachgewiesen: Am 9. Januar in Zootzen in Brandenburg, am 10. Januar in Sarenseck, Niedersachsen, am selben Tag in Below, Mecklenburg-Vorpommern. Am 2. März in Otterbach in Hessen. Und gleich dreimal an eben jenem 5. Mai allein in Mecklenburg-Vorpommern.

Neben Bützow traf es am Dienstag auch die Ortschaften Groß Laasch und Rampe, in einem Fall etwa 50 Kilometer von Bützow entfernt, im anderen etwa 100. Während jedoch in Bützow Autos bis zu 70 Meter durch die Luft flogen und die Dächer der halben Stadt abgerissen wurden, traf es bei Rampe nur Feld und Bäume, in Groß Laasch drei alleinstehende Häuser.

Entstehen können Tornados überall. "In ganz Deutschland besteht das Potenzial dafür", sagt der Meteorologe Andreas Friedrich vom Deutschen Wetterdienst unserer Redaktion. Der Mann weiß, wovon er spricht. Er ist Tornado-Beauftragter. 20 bis 60 registriert er pro Jahr mehr oder minder wahllos über die Republik verteilt. Dass die Wirbelstürme bei uns so viel seltener Schlagzeilen machen, führt Friedrich darauf zurück, dass sie sich oftmals in unbewohntem Gebiet austoben und zum Teil erst später wegen der Schäden oder sogar gar nicht bemerkt werden.

Treffen sie aber besiedeltes Gebiet, ist die Aufregung groß. Wer in die jüngere Vergangenheit blickt, findet auch Beispiele aus NRW. Zum Beispiel im Sommer 2008 bei Nottuln im Kreis Coesfeld. Am 22. Juli, kurz nach 19 Uhr, wurde erst der Himmel finster, dann wurde es laut. Dächer wurden teilweise abgedeckt, Nachbarn berichteten von hochgewirbelten Gegenständen: "Plötzlich sauste unser Gartentisch am Wohnzimmerfenster vorbei." Ein anderer Bewohner sah, wie das Gewächshaus weggerissen wurde, einer stellte fest, dass es den Kamin "schlicht aus dem Dach gerissen" hatte.

Erst ein Jahr zurück liegt ein Fall aus Elmpt im Juni 2014, bei dem zumindest der Verdacht auf einen Tornado vorlag. Auch dort deckte der Wind Dächer ab, 50 Meter lange Netze eines Bauern verteilten sich in der Region. Zeitgleich war es in anderen Teilen des Ortes völlig windstill. Alles Anzeichen für einen Sturm, der die meteorologischen Kriterien für einen Tornado erfüllt. Dazu zählen die Fachleute einen Luftwirbel mit einer Geschwindigkeit von mindestens 64 Stundenkilometern, der sich um eine senkrechte Achsen dreht und dabei eine geschlossene Säule bildet, die am Boden sichtbare Spuren aufweist. Das können bei einem schwachen Tornado aufgewirbelter Staub oder Blätter sein, bei einem starken Bäume, Pkw und ganze Häuser.

Die bisher maximale Geschwindigkeit eines Tornados, die die Fachleute jemals rekonstruieren konnten, liegt laut Tornado-Forscher Friedrich bei 512 Stundenkilometern. Dazu nutzen Meteorologen die nach ihrem Erfinder benannte Fujita-Skala. Theoretisch reicht sie bis Stufe F12, was umgerechnet mehr als 1188 Stundenkilometern entspricht und physikalisch auf der Erde nicht mehr im Bereich des Möglichen liegt.

Die schweren Tornados in der berüchtigten Tornado-Alley im Mittleren Westen der USA gehören mit Stufe F5 zu dem Gewaltigsten, was bisher gemessen wurde. Bei Windgeschwindigkeiten von 419 bis 512 Stundenkilometern können ganze Holzhäuser von ihren Fundamenten gerissen, verschoben und zerlegt werden. Die Kraft des Windes soll angeblich sogar asphaltierte Straßen mit sich reißen können.

Auch in Deutschland tobten bereits verheerende Tornados

Zum Vergleich: Den Tornado in Bützow klassifiziert Friedrich bei Stufe F2, vielleicht auch F3 ein. Das entspricht Geschwindigkeiten von 181 bis 253 (F2) oder sogar 332 Stundenkilometern (F3). Genau beziffern kann Friedrich das noch nicht, denn die Kraft der Tornados wird erst im Nachhinein über die Analyse der Schäden rekonstruiert. Auf Messgeräte verzichten die Meteorologen. "Das wäre sonst weg", sagt Friedrich.

Dass in Deutschland oftmals von kleinen oder Mini-Tornados gesprochen wird, weist er allerdings als Irrglauben zurück. Zwar treten den Aufzeichnungen zufolge in den USA etwa zehnmal so häufig Tornados auf und damit auch deutlich häufiger Wirbelstürme der "verheerenden" Kategorie. Doch schließt das ein solches Naturereignis in Europa keineswegs aus.

Statistisch ist Deutschland längst fällig. Die jüngsten Extrem-Stürme verortet Friedrich in den Jahren 1800 und 1801. Den historischen Aufzeichnungen nach wurden damals in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen ganze Häuser dem Boden gleichgemacht — ähnlich wie es in den Nachrichten der Jetzt-Zeit so oft aus der Region um Oklahoma zu sehen ist. Im 20. Jahrhundert sind zwei F4-Tornados in Deutschland zu verzeichnen: Einer im Jahr 1968 bei Pforzheim, der nach Augenzeugenberichten die Innenstadt aussehen ließ wie nach einem Bombenangriff und zwei Menschen das Leben kostete, einer im Jahr 1979 bei Bad Liebenwerda in Brandenburg. Dieser saugte sogar Teiche leer, verschob Mähdrescher mit einem Gewicht von über 10 Tonnen und zog eine um die 50 Kilometer lange Schneise durch das Land.

(pst)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort