Nach Todesfahrt von Berlin „Psychisch Kranke sind nicht gewaltbereiter“

Berlin/Darmstadt · Ein psychisch kranker Mann rast am Berliner Ku'damm in Menschengruppen, eine Frau stirbt. Haben Menschen, die solche Taten begehen, grundsätzlich psychische Probleme? Expertinnen haben eine klare Antwort: Nein.

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Amokfahrt in Berlin - Trauer am Tag danach

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Foto: dpa/Fabian Sommer

Bei Taten wie der Todesfahrt in Berlin kann die Vermutung naheliegen, dass eine psychische Erkrankung dahinter stecken muss - doch laut Experten ist das längst nicht immer so. „Psychisch Kranke sind nicht gewaltbereiter als der Durchschnitt der Bevölkerung, aber wenn es zu solchen spektakulären Fällen kommt, dann sorgt das medial natürlich für Aufsehen“, sagte die Direktorin der Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Berlin, Isabella Heuser, der Deutschen Presse-Agentur. Dadurch entstehe der Eindruck, nur psychisch Kranke seien zu solchen Taten fähig.

Auch laut der Kriminalpsychologin Karoline Roshdi, die unter anderem zum Umgang mit bedrohlichem Verhalten und zur Prävention schwerer Gewalt und Amok berät, wird nur rund ein Drittel solcher Taten von Menschen mit psychischen Störungen begangen.

Psychische Erkrankungen - von Angststörungen über Depression bis hin zu Störungen durch beispielsweise Alkoholkonsum - sind in der Bevölkerung ziemlich häufig: Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde sind jedes Jahr knapp 28 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen. Das entspreche rund 17,8 Millionen Menschen.

Der Todesfahrer von Berlin soll nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft in eine Psychiatrie kommen. Es gebe Anhaltspunkte dafür, dass der 29-Jährige an einer paranoiden Schizophrenie leide, hieß es. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung seien Medikamente gefunden worden. Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) berichtete, der Mann sei in der Vergangenheit öfter der Polizei aufgefallen, es habe Ermittlungen gegeben wegen Körperverletzung, Hausfriedensbruchs und Beleidigung.

Am Mittwochvormittag raste der Mann nahe der Gedächtniskirche über Gehwege des Ku'damms und der Tauentzienstraße. Nach jüngsten Angaben wurden eine Lehrerin getötet und 32 Menschen verletzt, darunter viele Schüler einer 10. Klasse aus Hessen.

Ein anderer Fall, bei dem ein psychisch erkrankter Mann eine Amokfahrt begann, ereignete sich in Heidelberg im Februar 2017: Ein 35-Jähriger raste in eine Menschengruppe. Dabei starb ein 73 Jahre alter Mann. Der Täter wurde in die Psychiatrie eingewiesen.

Ein Jahr später, im April 2018, ereignete sich ein ähnlicher Fall in Münster. Wieder raste ein Mann in eine Gruppe von Menschen. Fünf Menschen kamen dabei ums Leben und mehr als 20 wurden verletzt. Daraufhin erschoss sich der Mann selbst. Die Ermittler gehen davon aus, dass der Täter psychisch krank war.

Auch in Bottrop und Essen gab es eine Amokfahrt. Im Januar 2019 steuerte ein psychisch kranker Rechtsradikaler sein Auto an beiden Orten in Feiernde, die er für Ausländer hielt. Dabei wurden 14 Menschen verletzt. Der Mann kam in die geschlossene Psychiatrie.

Trotz dieser Aufzählung betont die Klinik-Direktorin Heuser, dass es sich um Einzelfälle handele. Die Frage, was solche Täter bewegt, kann sie nicht abschließend beantworten. „Wenn bei dem Täter tatsächlich eine psychische Störung vorliegt, dann sind die Ursachen sehr unterschiedlich.“ Sie reichten von Depressionen bis hin zu paranoiden Psychosen.

Roshdi wird da etwas konkreter: Im aktuellen Fall sei zwar noch vieles unklar, daher sei eine genaue Beurteilung schwierig. Häufig liege in solchen Fällen aber eine Schizophrenie mit Verfolgungswahn vor. In dem aktuellen Fall komme angesichts des besonderen Tatorts - in der Nähe war 2016 der islamistische Anschlag - zudem eine „Nachahmungsdynamik“ in Betracht.

Zur Frage, wie vorhersehbar solche Taten sind, sagt die Kriminalpsychologin, man könne zwar Risikoeinschätzungen vornehmen, für die es auch solide Instrumente gebe - „aber das ist eine Momentaufnahme fürs Hier und Jetzt“. Gewaltfantasien und das Erleben von Krisen könnten dazu beitragen, dass Menschen in solche Ausnahmezustände geraten. „Was wir relativ häufig haben ist, dass kurz vor so einer Tatbegehung irgendetwas passiert, was die Täter moralisch sehr stark erschüttert“, sagte Roshdi.

Das Problem bei der Prävention sei, dass Täter ihre Gewaltfantasien oft nicht kundgeben, sagt Heuser. Manche von ihnen äußerten sich zwar etwa auf sozialen Medien aggressiv oder düster. „Die traurige Wahrheit ist aber, dass man das alles erst im Nachhinein erfährt.“

Wenn die Mitmenschen eines möglichen Täters solche aggressiven Äußerungen mitbekommen, sollten sie mit ihm in erster Linie kommunizieren. Außerdem gebe es beispielsweise auch Gewaltpräventionsstellen, die man anrufen könne, meint Heuser.

Doch eine solche Tat ist insbesondere für die Opfer und ihre Angehörigen erschütternd. Oftmals benötigen sie nach so einem Erlebnis psychologische Unterstützung. Laut Heuser muss man ihnen sofort einen Notfallseelsorger zur Verfügung stellen. Das habe jetzt wohl auch gut geklappt, nachdem man die Lehren aus dem terroristischen Anschlag vom Breitscheidplatz 2016 gezogen habe. Sofort seien Notfallseelsorger vor Ort gewesen.

(ahar/dpa)
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