100 Kilometer in 24 Stunden Ein Gewaltmarsch ins Glück

Düsseldorf · Alles ist cooler als Wandern? Pascal Grais sieht das sicherlich anders. Was den Sportmuffel dazu bewegte, rund 100 Kilometer in 24 Stunden zu wandern.

 "Auf gut Deutsch gesagt, war ich eine faule Sau", sagt Pascal Grais (36) über sich. Dann zog ihn gerade das scheinbar Unerreichbare an: 100 Kilometer zurücklegen, zu Fuß, in 24 Stunden.

"Auf gut Deutsch gesagt, war ich eine faule Sau", sagt Pascal Grais (36) über sich. Dann zog ihn gerade das scheinbar Unerreichbare an: 100 Kilometer zurücklegen, zu Fuß, in 24 Stunden.

Foto: Pascal Grais

Die Sonne brennt mit mehr als 30 Grad, die Füße schmerzen, der Rucksack scheint tonnenschwer, und Pascal Grais ist genervt vom Zuspruch seiner Freunde. Die SMS und WhatsApp-Nachrichten freuen und rühren ihn, vor allem aber lenken sie ihn ab. "Bitte schreibt nicht mehr", tippt er, und konzentriert sich wieder ganz auf seinen Rhythmus, das Atmen und Gehen.

Klingt einfach, ist aber schwierig, wenn das Gelände wechselt, mal Asphalt, mal weicher Waldweg, mal Sand, mal tückisches Kopfsteinpflaster. Der 36-Jährige, der sonst in Niederbayern gemütlich einen Gabelstapler steuert, schwitzt nun östlich von Berlin seine Klamotten durch, aber er setzt stoisch ein Bein vor das andere, läuft vorbei am Müggelsee und an übermotivierten Extremsportlern, die zuvor feixend ihn überholt hatten. Läuft und läuft und läuft. Langsam, aber sicher. Sein Ziel: 100 Kilometer in weniger als 24 Stunden.

"Wahnsinn", war sein erster Gedanke gewesen, als er vor zwei Jahren erstmals davon hörte, dass Menschen das versuchen, diese Distanz in dieser Zeit, also auch: ohne Schlaf. Er meinte es nicht bewundernd, sondern wörtlich. "Bescheuert. Ein Ding der Unmöglichkeit." Erst recht für ihn selbst. Der 36-jährige lebte nach einem schweren Motorradunfall mit Wirbelsäulenverletzung mehr als ungesund, stopfte nach seiner Schicht Fastfood in sich hinein und rauchte 60 Zigaretten am Tag, eine schlechte Gewohnheit seit mehr als 20 Jahren. Bewegte sich nie mehr, als er musste. Lieblingssport: Angeln. "Auf gut Deutsch gesagt, war ich eine faule Sau." Er war der Letzte, dem irgendjemand zugetraut hätte, 100 Kilometer zu Fuß zurückzulegen. Inklusive ihm selbst.

Trendsport Extremwandern

Extremwanderungen sind der jüngste Auswuchs des Wander-Booms, das ganze Jahr über können hier angeblich "Normalsportliche" nach einigen längeren Trainingsmärschen ihre Grenzen austesten: Im Januar lockt die "Berliner Polarnacht" (2 x 50 Kilometer), im November die "Borgsdorfer Nelke" (bis zu 100 Kilometer), dazwischen unter anderem "Dein Ostseeweg" (100 Kilometer), der "Bödefelder Höllenmarsch" (bis zu 111 Kilometer) sowie "Extrem Extrem Edersee" (159 Kilometer mit 3700 Höhenmetern). Weil gleich zwei junge Veranstaltergruppen aus NRW stammen, startet am 9. September in Wuppertal der "Mammutmarsch" und nur zwei Wochen später in Köln der "Megamarsch". Etwa jeder Vierte kommt durch.

Pascal Grais verfolgt das Treiben der Extremwanderer ein Jahr lang übers Internet — immer noch kopfschüttelnd, aber mit wachsender Faszination. "Diese unglaubliche Distanz hat mich angezogen." Dass selbst topfitte Marathonläufer daran scheitern, senkt seine Hemmschwelle, selbst mitzumachen, nach dem Motto: Es gibt nichts zu verlieren; egal, wie weit ich komme.

Und sich Aufraffen ist der erste Etappensieg. Eines Tages im Sommer 2016 versucht er es selbst mit dem Wandern. Für fünf Kilometer braucht er mehr als eine Stunde, danach steht er kurz vorm Kollaps. "Ich hatte Atemnot und Krämpfe, war fix und fertig", erinnert sich Grais amüsiert. "Danach war für 14 Tage Zapfenstreich." Doch ist ein ungekannter, unbändiger Ehrgeiz in ihm erwacht. "Ich wollte unbedingt zehn Kilometer schaffen." Also geht er Wandern, dreimal pro Woche. Obwohl Freunde raten, er solle doch Tauchen gehen, Mountainbiken oder notfalls auch Golfen, cooler als Wandern sei ja schließlich alles.

 Zu viel des Guten: Grais nahm unter anderem 5.000 Kilokalorien "schwere" Nahrung mit. Am Ende aß er nur zwei, drei Riegel sowie ein paar Bananen von den Streckenposten.

Zu viel des Guten: Grais nahm unter anderem 5.000 Kilokalorien "schwere" Nahrung mit. Am Ende aß er nur zwei, drei Riegel sowie ein paar Bananen von den Streckenposten.

Foto: Grais

Zehn Minuten vor Beginn des Jahres 2017 drückt er seine letzte Zigarette im Aschenbecher aus. Und aus den zehn Kilometern werden schnell zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig. "Dabei habe ich gespürt, wie ich gesünder wurde, kräftiger, ausdauernder." Also entscheidet er, sich beim "Mammutmarsch" anzumelden, 100 Kilometer durch das Berliner Umland.

Grais lebt 600 Kilometer von der Hauptstadt entfernt in Mainburg bei Landshut, Niederbayern, im größten Hopfenanbaugebiet der Welt. Dass ihn mancher schief anschaut, seit er statt zum Bier zu Wasser oder Saft greift, spornt ihn nur an: "Ich bin ein extremer Sturkopf." Und weil der Tätowierer seines Vertrauens nur einmal im Jahr zur örtlichen Tattoo-Messe greifbar ist, ziert Grais‘ Wade schon Wochen vor dem Start ein Wanderer im Wald samt "Mammutmarsch"-Logo. "Weil der Entschluss zur Teilnahme mein Leben verändert hat, schon durch das Dreivierteljahr Training davor". Außerdem ist es ein Grund mehr, die kompletten 100 Kilometer durchzuziehen.

Am 27. Mai 2017 um halb vier nachmittags geht es für Grais und die 1200 anderen Teilnehmer los: Langsam, aber sicher geht es vorwärts, durch Berliner Vororte, Wälder, Felder. Das Wetter ist nicht ideal. Im Vorjahr war der Lauf morgens um sechs Uhr aus Sicherheitsgründen abgebrochen worden, weil diverse Teilnehmer bei fünf Grad in T-Shirts und Shorts die Sanitäter überfordert hatten. Einige Teilnehmer waren auf eigene Faust zuende gelaufen bis Gusow an der polnischen Grenze und hatten sich beklagt, dass es keinen Zieleinlauf gab und keine Urkunden.

Das Logo des "Mammutmarschs" ließ sich Grais schon tätowieren, bevor er ihn antrat — weil schon die Vorbereitung darauf sein Leben verändert hat.

Das Logo des "Mammutmarschs" ließ sich Grais schon tätowieren, bevor er ihn antrat — weil schon die Vorbereitung darauf sein Leben verändert hat.

Foto: Grais

Bei Kilometer 44 erleidet Grais den ersten großen Rückschlag: Sein Bruder Sascha, den Pascal zum Mitwandern animiert hatte, gibt auf. Die nächsten 30 läuft er ganz allein durch die Nacht, die anfangs erfrischend kühl ist, aber bald nur noch kalt. Er wandert mit Taschenlampe und GPS-Gerät, aber ohne Musik im Ohr. "Ich habe es genossen, meine Umgebung doppelt so intensiv wahrzunehmen wie sonst." Trotzdem sinkt seine Motivation, zeigen sich Risse in seinem Willen, das Vorhaben unbedingt durchzuziehen. Als magischen Moment erlebt er den Sonnenaufgang gegen fünf Uhr: "Es wird heller und wärmer, das ist unglaublich. Die Vögel fangen an zu zwitschern, und du siehst wieder, wo du hinläufst." Motivationsschub einerseits, Denkanstoß andererseits: "Wie viele Sonnenaufgänge verpassen wir sonst? Fast alle."

In einem Video, das er für sich selbst erstellt und später auf Bitten der Veranstalter auch bei YouTube veröffentlicht, schnauft er: "Kilometer 71, ich hab keine Lust mehr... von den Füßen her ist es kein Problem, aber das Knie macht mir zu schaffen. Das hatte ich noch nie. Es ist unglaublich, wie sehr ein Knie schmerzen kann." Er dreht sich in Richtung einer Bank am Wegesrand; die Verlockung ist spürbar. Doch Grais zwingt sich zum Weiterlaufen: "Bis zum Checkpoint 4, bei Kilometer 74. Danach halte ich noch fünf Stunden durch." Am vierten Streckenposten ruht er sich fast eine Stunde lang aus. "Hätten meine Leute dort gestanden statt im Ziel — ich hätte abgebrochen." Tun sie aber nicht. Und die Pulsuhr ist nach wie vor im grünen Bereich. "Darauf habe ich immer geachtet", sagt Pascal. "so schlau bin ich schon. Die Gesundheit geht vor." Also weiter.

Kilometer 83. "Immer noch Sonne, Sonne, Sonne", flucht Grais. "Das Wetter macht mich fertig. Aber wir ziehen das jetzt durch. Das Knie tut weh ohne Ende, aber ich hab mich schon daran gewöhnt. Alles in Ordnung. Die Füße machen ihren Job, ich weiß nicht wieso. Die gehen einfach." Jetzt ist es nur noch Kopfsache, könnte man sagen, aber "nur noch" könnte falscher nicht sein.

Kilometer 97, 98, 99. Unbarmherzig brennt die Sonne auf das flache Brandenburger Land. Hunger spürt Grais ebenso wenig wie die vier blutigen Blasen an seinen Füßen, die er später entdecken wird. Er hat nur zwei, drei Riegel gegessen und ein paar Bananen, aber das Wasser ist ihm ausgegangen. Wie in Trance schleppt er sich vorwärts. "Man hätte mich fragen können, wie ich heiße; ich glaube, ich hätte es nicht sagen können." Die letzten paar hundert Meter des Wegs zeigt sein Video in Echtzeit statt wie sonst im Zeitraffer. Grais schafft es ins Ziel, weil ihm seine Freundin Nadine von der Ziellinie entgegenläuft. Als einer von 280 Wanderern kommt er an, 920 haben unterwegs aufgegeben. Mechanisch nimmt er Glückwünsche entgegen, führt Gespräche, an die er sich später nicht erinnert. Die eigens mitgenommene Mini-Sektflasche lässt er beinahe fallen.

Aber die 100 Kilometer sind geschafft, 150.000 Schritte in 23 Stunden und 43 Minuten. 9294 Kilokalorien habe er dabei verbrannt, meldet der Taschencomputer. Das alles beherrschende Gefühl? "Unglaubliche Erleichterung." Die Freude und der Stolz kommen erst danach, aber sie kommen mit Wucht, halten ihn weitere 10 Stunden wach und wirken bis heute nach.

Schon eine Woche nach der Extremwanderung schnürt Grais erneut seine Schuhe, durchstreift die Wälder seiner Heimat, diesmal und seitdem immer allerdings "ohne Uhr, ohne GPS-Gerät, ohne alles". Der selbst erzeugte Druck ist weg. Auch viele Wege im Alltag macht er längst zu Fuß: "Dann braucht‘s halt ‘ne Stunde länger, was soll‘s?"

Am 5. August will Pascal Grais den ersten "Mammutmarsch" in München laufen. Mit einer Gruppe von neun Leuten, darunter seine Schwägerin, sein Neffe, der Bruder seines besten Freundes, die von ihm inspiriert sind. Gerade weil er nicht zum Supersportler mutiert ist, nicht süchtig geworden nach dem Höher, Schneller, Weiter. "Wenn ich versuche, schnell zu laufen, ist nach 800 Metern Schluss", sagt er. "Puls 190, erst vergangene Woche wieder erlebt. Nichts für mich." Warum ihn gerade diese Herausforderung so gereizt, gelockt, in ihren Bann gezogen hat, ist Grais selbst bis heute ein Rätsel.

Legendär ist die Antwort des britischen Bergsteiger-Pioniers George Mallory auf die Frage, warum er den Mount Everest besteigen wolle: "Weil er da ist." Diese Obsession kostete ihn das Leben. Sein Leichnam wurde erst 1999 entdeckt, ein Dreivierteljahrhundert nach seinem Tod.

Pascal Grais wird der Sport nicht ins Grab bringen, im Gegenteil. Seit einiger Zeit besitzt der Mann, der in einem anderen Leben ein übergewichtiger Raucher war, einen eigenen Kühlschrank, bis zum Rand gefüllt mit Schonkost. Er kann aus erster Hand bestätigen, womit der Deutsche Wanderverband wirbt: Dass das Wandern beim Abnehmen hilft, Achtsamkeit und Ausdauer verbessert. Den Blutdruck senkt, entschleunigt, entspannt und Erfolgserlebnisse vermittelt. Die Konzentration steigert, Glückshormone ins Blut spült und die Gelenke stärkt, Geduld und Gelassenheit lehrt, und so weiter und so weiter. Er hat sich neu erfunden, seine Laster hinter sich gelassen, ist selbstbewusst geworden und demütig geblieben. Er würde keine Wette eingehen, wie weit er es beim Marsch in München schafft: "Bei allem Training und allem Willen gehört immer auch viel Glück dazu.” Das Wandern hat Pascal Grais sehr viel weiter gebracht als ein paar hundert Kilometer.

(tojo)
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