Kommission zur Aufarbeitung Missbrauchsopfer berichten — Mütter glaubten ihnen nicht

Berlin · Der Zwischenbericht der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs basiert auf den Biografien von mehr als 300 Erwachsenen, die in Kindheit und Jugend Übergriffe erlebt haben. Die mangelnde Unterstützung der Angehörigen, von der die Opfer berichten, macht sprachlos.

 Opfer bleiben oft auf sich allein gestellt (Symbolbild).

Opfer bleiben oft auf sich allein gestellt (Symbolbild).

Foto: dpa

Ausgewählte Erlebnisse werden veröffentlicht, die Betroffenen bekommen dann ein Pseudonym. Die Anhörungen verfolgten vertraulich. Durch sie wollen die Experten Missbrauchsmuster aufdecken und für die Zukunft besseren Kinderschutz ermöglichen. Zwei Schicksale aus dem Bericht, die exemplarisch für viele andere stehen.

Leonie wird Mitte der 90er Jahre geboren und hat eine Zwillingsschwester. Als die Mädchen sechs Jahre alt sind, beginnt der Großvater mit sexuellen Übergriffen. "In der vierten Klasse hatte ich Sexualkundeunterricht. Da begriff ich, dass das, was mein Opa macht, nicht richtig ist, und sagte es meiner Mutter." Die Mutter glaubte der Tochter, weil sie selbst als Kind missbraucht wurde.

Zwei Jahre später, als Leonie elf ist, beginnt ihr Vater, sie zum Geschlechtsverkehr zu zwingen. Die Mutter glaubt ihr nicht und beschimpft sie mit den Worten: "Du machst die Familie kaputt." Leonie berichtet: "Ich schloss meistens die Augen, weil ich es nicht ertrug, oder versuchte, mich weit weg zu denken." Als sie 14 ist, gibt der Vater die Taten gegenüber der Mutter zu.

Leonies Eltern lassen sich scheiden, der Vater beginnt eine Tätertherapie. Das Jugendamt rät Leonie von einer Anzeige ab. "Mir fällt es schwer, meinen Körper überhaupt anzunehmen. Nähe zuzulassen - wenigstens bei Freunden mal eine Umarmung anzunehmen, ohne dass man Panik bekommt oder denkt, die Haut brennt innerlich", sagt sie heute. Leonie macht eine Ausbildung und bedauert es, keine Traumatherapeutin gefunden zu haben.

Tim wird wie Leonie Mitte der 90er Jahre geboren. Als er zehn ist, zieht der neue Lebensgefährte der Mutter ein. Sie erwartet ein Kind vom ihm. "Es ist überall passiert. Wohnzimmer, Dachboden, Badezimmer, Schlafzimmer der Eltern, Kinderzimmer, Schwimmbad, Sauna, Auto.

Nachts, wenn die Mutter schlief, mittags nach der Schule, abends noch mal. Es gab kein Entkommen", berichtet Tim. Der Stiefvater erzählt, dass er früher selbst missbraucht wurde. "Ich hatte Mitleid mit dem. Er war der einzige Mensch in meinem Leben. Ich hatte keinen Kontakt zu meinem Vater, ein schwieriges Verhältnis zu meiner Mutter und keine Freunde." Der Stiefvater zahlt für Vergewaltigungen.

Tims älterer Bruder, der ebenfalls unter den Übergriffen leidet, offenbart sich der Mutter. Tim beteuert, dass die Anschuldigungen nicht stimmen. Mit 18 zieht er aus und zeigt seinen Stiefvater wenig später an. Der Mann wird zu sieben Jahren Haft und 100.000 Euro Schmerzensgeld verurteilt.

Tims Mutter macht ihrem Sohn Vorwürfe: "Gib doch endlich zu, dass du ihn geliebt hast und eifersüchtig auf mich warst." Tim hat eine Ausbildung gemacht und ist berufstätig. Das wird ihm beim Opferentschädigungsverfahren negativ ausgelegt. Wer so "funktioniert", könne nicht schwer geschädigt sein. Tims Realität ist eine andere. Er fühlt sich schuldig und erschöpft. "Ich bin voll am Abgrund jeden Tag", sagt der junge Mann.

(isw/dpa)
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